Am 17. September wird ihr Namenstag gefeiert. Dr. Markus Hofer hat sich sehr ausgiebig mit der hl. Hildegard von Bingen beschäftigt und kommt angesichts der Hildegardwelle zum Schluss: Diese Heilige wird derzeit filetiert.

Heute wird sie fast nur noch über Kochrezepte und Edelsteine, Fastenkuren oder Dinkelkekse wahrgenommen. Im Mittelalter hingegen galt Hildegard von Bingen als Prophetissa teutonica, als die deutsche Prophetin. Die rührige Äbtissin mit ihren vielfältigen Begabungen und ihrem weiblichen Selbstbewusstsein ist eine der bedeutendsten Frauengestalten des Mittelalters und der Kirche überhaupt. Sie hatte göttliche Visionen, komponierte Lieder, beschäftigte sich mit Natur und Heilkunde, managte ein riesiges Frauenkloster und mischte sich in die Kirchenpolitik ein. Sie selbst nannte sich einmal „die Posaune Gottes“.

Hildegard kam 1098 als zehntes Kind einer angesehen Adelsfamilie zur Welt und wurde von ihren Eltern als Zehent Gott geweiht. Schon in jungen Jahren kam sie in die Frauenklause des Benediktinerklosters am Disibodenberg, legte dort ihr Gelübde ab und wurde mit achtunddreißig Jahren zur Magistra der Frauenklause gewählt; Äbtissin im strengen Sinn war sie nie. Selbstbewusst und mit der finanziellen Unterstützung ihres Elternhauses und anderer Adelsfamilien gründete sie später ihr eigenes Frauenkloster am Rupertsberg bei Bingen und bald darauf das Kloster Eibingen auf der anderen Rheinseite für die nichtadeligen Schwestern. Gegenüber den Kirchenmännern kämpfte sie selbstbewusst und strategisch gewitzt um die Eigenständigkeit ihrer Klostergründung. Den letzten Schutz dafür holte sie sich sogar vom Kaiser persönlich.

Schon früh hatte Hildegard religiöse Visionen, war lange Zeit aber unsicher, wie ernst sie diese nehmen dürfe. Im Alter von zweiundvierzig Jahren begann sie mit der Niederschrift ihres ersten Buches „Scivias“, dem bis ins hohe Alter noch zwei umfangreiche Visionsschriften folgten. Als 1147 Papst Eugen III. zu einer Synode in Trier weilte, legte der Erzbischof von Mainz ihre Schriften dem kirchlichen Oberhaupt vor. Dieser versammelte seine Berater, unter ihnen der große Bernhard von Clairvaux, und las selber aus Hildegards Visionen vor. Am Ende wurde Hildegard vom Papst autorisiert, und er befahl ihr sogar, ihre Visionen niederzuschreiben. In der Vita heißt es: „Alle sagten, dass es aus Gott sei und aus der Prophetie, aufgrund derer einst die Propheten prophezeiten.“

Und was ist mit der Heilkunde, für die Hildegard heute fast ausschließlich bekannt ist? Ihre medizinisch-heilkundlichen Schriften gehören nicht zu den visionären Schriften und sind kein Teil von Hildegards Prophetie. Ihre Leistung liegt viel eher darin, dass sie das damalige Wissen über Krankheit und Pflanzen aus der griechisch-lateinischen Tradition mit dem der Volksmedizin zusammen brachte und durch eigene Beobachtungen und Spekulationen anreicherte. In ihren heilkundlichen Schriften finden sich nebeneinander handfeste Rezepturen aus der Klosterapotheke, theologische Spekulationen, magische Vorstellungen und ein Wissen über den menschlichen Körper, das dem vorwissenschaftlichen Stand ihrer Zeit entspricht. Kochrezepte gibt es in ihren Schriften natürlich keine und es wäre ein unhistorische Annahme, dass die selbstbewusste, adelige Äbtissin je selbst am Herd gestanden hätte.

Trotzdem ist erstaunlich, welchen Hildegard-Boom die zeitgenössische Gesundheitswelle erzeugt. Selten war eine Heilige derart populär wie Hildegard heute – und doch wird sie vom Zeitgeist regelrecht filetiert. Für Hildegard von Bingen war klar, dass das Universum, die Erde und ebenso der menschliche Körper in einer Ordnung stehen, die von Gott dem Schöpfer so gewollt und geschaffen ist. Krankheit hat immer auch damit zu tun, dass in dieser göttlichen Ordnung etwas durcheinander geraten ist. Wirkliche Heilung gibt es für sie nicht, ohne dass der Mensch sich in die richtige Ordnung zu Gott stellt. Ganzheitlich bedeutet bei Hildegard keineswegs, dass die Schulmedizin durch alternative Heilmethoden ergänzt wird, sondern vielmehr, dass der Mensch auch in seinem Glauben wieder heil wird. Letzteres aber ist nicht unbedingt das, was heute einen Boom auslösen würde; dann schon lieber Dinkel pur. So wird die große Heilige derzeit regelrecht filetiert, indem die praktisch verwertbaren Hinweise aus ihrem gesamten Zusammenhang, dem rechten Glauben an Gott, gelöst und Hildegard auf eine Sammlung von Kräuterrezepturen reduziert wird. Hier Dinkel, Tee und Mineralien und dort der liebe Gott – und den lässt man dann gerne einen lieben Gott sein.

Es ist nichts einzuwenden gegen den Versuch, ihr Heilwissen für Menschen der Gegenwart fruchtbar zu machen. Angesichts des ganzen Booms der Verwertung wird „Hildegard“ jedoch zunehmend zu einer Marke, die mit der großen Heiligen nur noch eingeschränkt zu tun hat. Angesichts ihrer religiösen Visionen ist anzunehmen, dass die Posaune Gottes der heutigen Gesundheitswelle eher den Marsch blasen würde. Und über allem geht unter, was die historische Bedeutsamkeit dieser Heiligen ausmacht: Hildegard von Bingen war im Mittelalter als Frau eine kirchlich anerkannte Prophetin!

Dr. Markus Hofer