In den Tagen der Kirchenentwicklung – vormals „Dekanatliche Weiterbildung in Bad Waldsee“ – stand 2023 das Thema der gelebten Nächstenliebe im Alltag im Mittelpunkt. Das Thema wurde in einer Mischung aus Spiritualität, theologischer und psychologischer Reflexion und konkreten Praxisberichten aus unterschiedlichen Seiten beleuchtet.

Einheit von Gottesliebe und Nächstenliebe

Diakonie – tätige Nächstenliebe - ist eines der Kerngeschäfte der Kirche. Daran besteht kein Zweifel. Für Jesus kann das Gottesverhältnis nicht von der konkreten Nächstenliebe getrennt werden. Dass die Sache in der Praxis aber nicht ganz so einfach ist, zeigt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37). Dort lassen die Geistlichen der damaligen Zeit – Priester und Levit – einen verletzten Menschen auf dem unwirtlichen Weg zwischen Jerusalem und Jericho einfach liegen. Erst ein Samaritaner nimmt sich seiner an. Aber Samaritaner galten damals nicht als gehörige Juden.

(Zeit-)Druck schränkt das Blickfeld ein

Der Pastoraltheologe und –pyschologe Prof. Christoph Jacobs (Paderborn) zeigte gleich zu Beginn, dass dieses Vorbeigehen am Bedürftigen Menschen kein Merkmal der jüdischen Religion der Zeit Jesu war. Dies wird aus einem Experiment der Psychologen Darley und Bateson 1973 mit Theologiestudierenden deutlich: Sie sollten eine Probepredigt über das Gleichnis vom barmherzigen Samariter halten. Was sie nicht wussten: sie begegneten auf ihrem Weg zum Saal, wo sie ihre Predigt halten sollten, einem Menschen, der am Boden lag, hustete und offensichtlich hilfsbedürftig war. Die Studierenden wurden einem unterschiedlichen Zeitdruck ausgesetzt. Die Psychologen fanden heraus, dass überhaupt nur knapp die Hälfte auf dem Weg zur Predigt half. Je stärker der Zeitdruck war, desto weniger halfen dem Bedürftigen. Zeitdruck schränkt also das Blickfeld ein. Andere Experimente zeigen, dass es noch zahlreiche weitere Gründe gibt, warum nicht geholfen wird: etwa wenn die Menschen glauben, dass die Bedürftigen an ihrer Not selbst schuld sind oder wenn auch die anderen Menschen nichts tun. Umgekehrt ist die Solidarität umso größer, je ähnlicher die Bedürftigen sind.

Die Entdiakonisierung der Kirche

Die Kirche hat mit der Caritas die Nächstenliebe an eine professionelle Organisation ausgelagert. Die Pfarrgemeinden fühlen sich dadurch nicht mehr verantwortlich für die Notleidenden in ihrem Gebiet. Und umgekehrt verstehen sich viele Caritas-Mitarbeiter:innen nicht mehr als Teil der Kirche. Prof. Jacobs spricht provokativ von einer „Entkirchlichung der Caritas“ und von einer „Entdiakonisierung der Kirche“. So ist es heute so, dass nur wenige Pfarrgemeinden von sich sagen würden, dass die konkrete Nächstenliebe vor Ort ihre Stärke wäre.

Soziale Verantwortung wieder einüben

Neuere Forschungen haben erwiesen, dass soziales Verhalten zum Menschsein gehört und eine biologisch-genetische Basis hat. Es wird aber oft abtrainiert. Menschen können sie sich aber wieder „antrainieren“: zum Beispiel dadurch, dass man über mögliche Situationen nachdenkt, in denen Hilfe benötigt werden könnte und sich auch ausdenkt, welche Handlungen dann notwendig sind. Oder indem man in kleinen Dingen praktische Hilfeleistungen einübt. Auch Empathie kann geübt werden.

Mit kleinen Dingen beginnen

Dass Hilfe auch in Pfarren mit kleinen Dingen beginnen kann, zeigt das Beispiel der Pfarre St. Christoph in Dornbirn Rohrbach. Warum nicht einmal ein Erntedankfest mit einer Sammlung von Hygieneartikeln für die Menschen bei „Tischlein deck dich“ kombinieren, fragt sich der Gemeindeleiter Alfons Meindl? Oder alte Fahrräder für ukrainische Flüchtlinge sammeln? Meindl erzählt von einer langen Reihe kleinerer oder größerer Initiativen der Pfarre und des Seelsorgerausm. Diese und viele andere kleinere und größere Aktionen können auch in einer Pfarre die Haltung tätiger Nächstenliebe stärken. Eine Sammlung unter den Teilnehmer:innen der Tage der Kirchenentwicklung zeigt, dass es bei allen solche Beispiele gibt. Gelebte Nächstenliebe in den Pfarren ist manchmal so selbstverständlich, dass man sie gar nicht mehr wahrnimmt.

Stimmen aus den Tagen der Kirchenentwicklung

Teresa Loichen (Krankenhausseelsorgerin in Bludenz) sieht mehrere Appelle aus der Fortbildung:

  • eigenes und pfarrliches Tun kritisch reflektieren hinsichtlich des Grundvollzugs DIAKONIA (Selbstverständnis und Verortung, Reflexion und Einbettung, Motivation und Bedeutung im Tun, Art und Weise des Vorgehens etc.), zum Beispiel anhand von Predigttexten Alfred Delps, die anspruchsvoll und provozierend sind
  • die Chancen der Diakonischen Pastoral entdecken, gerade in diesen Zeiten des Umbruchs, d.h. Pfarrcaritas und deren Möglichkeiten verstärkt in den Blick nehmen
  • konkret Menschen Nahe sein bzw. Näher kommen (geh hin Kirche), insbesondere bei Lebensumbrüchen, Notlagen und existenzbedrohenden Situationen.

Edgar Ferchl-Blum zieht für sich folgende Folgerungen:

Ich bin mit der Frage zu den Tagen der Kirchenentwicklung gegangen, was denn bei der Entwicklung des neuen Pfarrverbandes Leiblachtal die grundlegende, die entscheidende Perspektive für die Entwicklung und das Zusammenwachsen der Pfarrgemeinden und der anderen kirchlichen Einrichtungen (Kloster Mariastern-Gwiggen, Geistliches Zentrum am Ruggbach) sein muss. Woran kann man uns erkennen? Was würde fehlen, wenn es uns im Leiblachtal nicht gäbe? Prof. Jacobs hat mir mit seinen Überlegungen eine entscheidende Spur gelegt: Die Strukturentwicklung darf die Pastoralentwicklung nicht ersticken. Die Menschen im Tal müssen die christlichen Gemeinden an ihrer gelebten Nächstenliebe erkennen können. Diese sollte unsere Kernkompetenz sein. So wird die Diakonie, die Caritas zur Kernaufgabe in unseren Gemeinden. Für die einzelne Person bedeute das, dass seine Identität als Samariter / ihre Identität als Samariterin neu gefestigt und aufgebaut werden muss. Für die Pfarrgemeinden sollte es bedeuten, dass der Graben zwischen „gefeierter Eucharistie“ und „gelebter Eucharistie“ wieder schmaler wird, dass im pastoralen Alltag der Wille zur Diakonie stark ist.