Der Pionierkurs "Church in progress" fuhr am 4. und 5. März 2022 nach Zürich und besuchte dort vier Orte, an denen Kirche in anderer Form gelebt wird.

Kirche ohne Raum

Die erste Station ist das "Green City Spirit", wo Kirche im Neubauviertel gelebt wird. Derzeit wohnen dort 2000 Menschen und weitere 2000 arbeiten bei verschiedenen Firmen. In den nächsten Jahren kommen noch einmal 4000 Bewohner:innen dazu. In 10 Minuten ist man mit der Bahn, die laufend fährt, in der Innenstadt von Zürich und auf der anderen Seite in der gleichen Zeit mitten im Grünen.

Pfarrerin Galina Angelova und Sozialdiakonin Yvonne Roth führen uns zuerst auf einen Balkon und zeigen uns "ihr" Quartier. Der Gemeinschaftsraum, in dem sie uns von ihrer Arbeit erzählen, ist gemietet. Kirche ist hier Gast. Ob sie für ihre Angebote das Gemeinschaftszentrum nutzen dürfen, entscheidet eine Kommission. Grundlegend für ihre Wirkung sind Kontakte und Beziehungen, aus denen Vertrauen wachsen kann. Deshalb helfen sie zuerst einmal bei den Gemeinschaftsprojekten im Quartier mit oder sitzen im Café "Olive" und lassen sich auf Gespräche mit den Gästen ein.

Das "Green City Spirit" folgt der Idee einer sozialreligiösen Stadtentwicklung und will dazu beitragen, dass sich die Bewohner:innen untereinander verbinden. Das eine oder andere regelmäßige Angebot ist schon gewachsen. "Kooperieren, Mitgefühl und Mitmenschlichkeit leben" lautet ihr Motto. "Wo findet ihr Gott, der hier schon da ist?", gibt uns ein Kursteilnehmer als offene Frage mit auf den Weg.

Kirche als Gastgeberin für Kollaboration

Im Coworking-Space "Blau 10" werden wir von Reto Nägelin empfangen. Bevor wir ins Gespräch einsteigen, sorgt er dafür, dass sich jede:r einen Kaffee aus der hochwertigen Kaffeemaschine oder ein anderes passendes Getränk nimmt. Selbstorganisation und Gastfreundschaft sind hier zentral. Reto Nägelin gehörte zu den ersten Gründer:innen, die sich im "Blau 10" eingemietet haben. Der Kirchenpionier gründete "eifach Wiit", eine offene Community für himmlische Freiräume, und fand als Ein-Personen-Firma im "Blau 10" inspirierende Gespräche und co-kreative Netzwerke.

Derzeit hat der Coworking-Space ca. 40 eingetragene Mitglieder, die vor allem im sozialen, kulturellen und ökologischen Bereich Startups gegründet haben. Auch wenn es kaum explizit spirituelle Angebote gibt, spüren die Gründer:innen: "Hier ist einfach ein bisschen Gott drin."

Stille mitten in der Stadt

Den zweiten Reisetag beginnen wir mit einer Laudes im Stadtkloster. Vor zehn Jahren traf sich eine bunte Gruppe, in der alle von der Frage fasziniert waren, wie klösterliches Leben heute für evangelische Christ:innen mitten in Zürich ausschauen könnte. Verbindend war und ist die Sehnsucht nach einer alltagstauglichen Spiritualität und nach einem gemeinsamen Suchprozess. Aus der Sehnsucht wurde ein gemeinsamer Weg, der mit der Haltung des "Wir beginnen einfach" und der Offenheit für immer neue Anpassungen gegangen wurde und wird. Hans Strub hat diese Jahre im neuen Buch "Kloster werden" beschrieben.

Im Moment hat der Verein 26 aktive und 41 passive Mitglieder, die sich für ein Jahr verpflichten. Sie nehmen im Rahmen ihrer Möglichkeiten am Laudes- und Vespergebet teil und treffen sich sechsmal im Jahr zu einem Konvent. Ein paar von ihnen leben miteinander und mit anderen in einer Wohngemeinschaft, die diese Gebete vorbereitet und trägt. Je nach den Talenten von Mitgliedern und gesellschaftlichen Themen werden zusätzliche spirituelle, soziale und politische Initiativen gestartet: Bibel teilen, gregorianisches Chorgebet, Exerzitien, Velo-Pilgern kommen genau so vor wie eine Winterstube für Obdachlose.

Wir führen das Gespräch mit einem Dreierteam des Stadtklosters mit gepackten Schachteln im Hintergrund. Ende März heißt es wieder, vertrauensvoll aufzubrechen. In eine neue Kirche und in eine neue Wohngemeinschaft, in die u. a. drei Personen mit Jahrgang 1948, 1978 und 1998 einziehen werden. Der nächste Abschnitt auf ihrer Reise "unter dem Segen von klösterlichem Leben" (Doris Kradolfer) beginnt.

Kirche in der Nachbarschaft

Unsere letzte Station führt uns zu einer katholischen Initiative: unter Gleisen, direkt an der Josefswiese, auf der Kinder herumtollen, und umgeben von urbanen Nachbarn unter den Viaduktbögen finden wir das "jenseits IM VIADUKT", ein "Kafi" und Eventlokal mit den Schwerpunkten Kultur, Nachhaltigkeit und Spiritualität. Coronabedingt ist hier keine Führung möglich, was der Gastfreundschaft keinen Abbruch tut.

Spontan springt Marcel Grob von der reformierten Kirche Zürich Hirzenbach ein. Marcel bezeichnet sich als "Innokon" und zeigt damit sein berufliches Selbstverständnis als Sozialdiakon: er unterstützt die Engagierten der Kirchgemeinde bei Innovationen und bei der Umsetzung von dem, was diese begeistert. Damit passt er in die Kultur der Partizipation, die in Hirzenbach schon seit Jahren gepflegt wird. So entstand auch der Traum von einem neuen Ort im Quartier, in dem Nachbarschaft gelebt wird und tragfähige Beziehungen wachsen können: das "Coffee&Deeds".

"Coffee" ist klar. Aber was heißt "Deeds"? Wir erfahren: das ist englisch und bedeutet "Taten". Und so verschmilzt in diesem Treffpunkt exzellente Gastronomie mit leidenschaftlicher Gastfreundschaft und praktischer Nächstenliebe. Wer sich zehn Minuten Zeit nimmt, findet hier eine Reportage darüber, wie das konkret gelebt wird.

Unsere Reise wurde begleitet von Nicole Bruderer-Traber, der theologischen Geschäftsführer am Zentrum für Kirchenentwicklung in Zürich, die am Schluss die Reise mit uns auswertete. Der Tenor der Reisegruppe war einhellig: inspirierend, begeisternd, ermutigend für die Umsetzung der eigenen Ideen.