Vom 3.-13. August fand in Locarno zum 75. Mal das Locarno Festival statt. In der Auswahl für den internationalen Wettbewerb standen unter anderem zwei starke österreichische Filme.

An den Abenden in der ersten Augusthälfte verwandelt sich der große Platz des Tessiner Städtchens Locarno in ein riesiges Kino. Bis zu 8000 Menschen verfolgen die Ehrungen und die Filme auf der Piazza. Corona scheint vergessen. Locarno ist stärker als je, verkünden Plakate mit dem Abbild des Festivalchefs Giona A. Nazarro. Von Corona geblieben ist die Notwendigkeit, jeden einzelnen Film über die Festival-App zu buchen. Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase funktioniert das auch recht gut. Lange Schlangen vor den Kinos und die Enttäuschung, einen Film nicht sehen zu können, weil der Saal schon voll ist, gehören der Vergangenheit an.

Präsenz von Frauen

Auffallend am diesjährigen Filmfestival ist die starke Präsenz von Frauen vor und hinter der Kamera. Fast die Hälfte der elf auf der Piazza Grande gezeigten Filme stammen von Frauen. Sieben der insgesamt 17 Filme des Wettbewerbs ebenfalls. Stark ist ihre Präsenz nicht nur zahlenmäßig, sondern auch von der Qualität her. Frauen haben auch die beiden Hauptpreise des internationalen Wettbewerbs gewonnen. Die Entscheidung, den Goldenen Leoparden an die Brasilianerin Julia Murat für ihren Film „Regra 34“ (Regel 34) zu verleihen, ist verdient und mutig. Im Mittelpunkt steht die schwarze Jus-Studentin Simone und ihre KommilitonInnen, die sich sich zu Pflichtverteidigern ausbilden lassen. In einer Beratungsstelle ist sie mit den Abgründen häuslicher Gewalt gegen Frauen konfrontiert. In der Nacht versucht sie sich, in einer online-Sexplattform zu etablieren, lebt ihre Sexualität jenseits gesellschaftlicher Konverntionen aus und fühlt sich zu zunehmend gewalttätigen sadomasochistischen Praktiken hingezogen.  "Regra 34" ist ein starker Film der wichtige Fragen zu den Zusammenhängen zwischen staatlicher und häuslicher Gewalt, Rassismus, Kolonialismus, Pornographie und den Grenzen und Abgründen der Sexualität aufwirft. Verstörend wirkt, dass die Studentin Simone darauf besteht, ihre Sexualität frei zu leben, auch wenn sie pornographisch und selbstzerstörerisch wird. Der Film nimmt hier nicht ausdrücklich Stellung und regt genau dadurch zum Nachdenken an.

Ebenso verdient ist der Regiepreis und der Preis für die besten DarstellerInnen (Reinaldo Amien Giutiérrez, Daniel Marín Navarro), die beide an den belgisch-französisch-costa ricanischen Film „Tengo sueños eléctricos“ (Ich habe elektrische Träume) von Valentina Maurel gehen. Eva muss nach der Trennung der Eltern ein neues Verhältnis zu ihrem Vater finden, weil sie sich mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester nicht versteht. Der Künstler ist mit der Situation, sich in einem neuen Leben zurechtzufinden genauso überfordert wie die Tochter und neigt in dieser Situation zu Gewaltausbrüchen. Eva lernt damit und mit der verwirrenden Welt der Erwachsenen umzugehen und sich zu behaupten. Dies geht nicht ohne Verletzungen vor sich. Der Film gibt einen tiefen Einblick in die Geschlechterverhältnisse des lateinamerikanischen Landes und spürt den Folgen nach, wenn familiäre Strukturen zerbrechen. Beide Siegerfilme stehen weniger für ein formal experimentelles Kino, sondern leben vom Einsatz der vorwiegend jungen Schauspielerinnen und Schauspieler.

Kunst ist ein Werkzeug des Friedens

Der Preis der ökumenischen Jury ging an den libanesischen Film „Hikayat elbeit elorjowani“ (Tales of the Purple House) von Abbas Fahdel. Er spannt ein weites Panorama zwischen der häuslichen Idylle, der gesellschaftlichen Realitäten von Korruption und Misswirtschaft im Libanon, der Kunst seiner Frau Nour und der berückenden Schönheit des Libanon. Kunst ist für Fahdel ein Werkzeug des Widerstands und ein Pladoyer, dem versehrten Land nicht den Rücken zu kehren.

Starke österreichische Präsenz

Österreich war im internationalen Wettbewerb, dem wichtigsten Forum des Festivals, mit zwei sehr starken Beiträgen präsent. In der Eingangsszene von Nikolaus Geyrhaltes Film ist ein Bagger auf einer idyllischen Wiese irgendwo im Schweizer Kanton Solothurn zu sehen. Unbarmherzig schneidet seine Schaufel die Grassode auf und legt Schaufel für Schaufel Flaschen, Bauschutt, alte Müllsäcke und Lastwagenreifen frei. In den Siebzigerjahren wurde hier eine Mülldeponie zugeschüttet und vergessen. „Matter Out of Place“ – Dinge am falschen Platz. Eine neutrale Beschreibung nicht fachgerecht entsorgten Mülls. Doch kann man die immensen Mengen von Müll, die täglich rund um den Globus anfallen, überhaupt fachgerecht entsorgen? In bestechend schön komponierten kommentarlosen Bildern konfrontiert Geyerhalters Film die ZuschauerInnen mit dem Wahnsinn der weltweiten Wegwerfgesellschaften: den Müllbergen in der Umgebung Katmandus, mit österreichischen Mülltrennungs- und verbrennungsanstalten, Müllsammlern auf dem Grund des Mittelmeers oder am Strand eines Luxusresorts auf einer Insel im Pazifik. Am Ende steht ein Blick auf die Aufräumarbeiten des amerikanischen „Burning Man“ Festivals, wo die Wüste am Ende noch mit Besen von den letzten Überbleibseln der feiernden Menschen gereinigt wird und damit die Vision einer leeren und müllfreien Erde heraufbeschworen wird. Geyrhalter erhielt für seinen Film den Umweltfilmpreis Pardo Verde WWF.

Ebenfalls aus Österreich stammt der inhaltlich und formal starke Beitrag Ruth Maders. „Serviam – ich will dienen“ ist ein Film, der in einem von einem Frauenorden geführten Internat am Ende der Achtzigerjahre spielt. Die sorgfältig komponierten Bilder einer statischen Kamera zeichnen eine kalte Welt. Der sterile Bau des Internats bildet die Kulisse der Handlung. Zwei leerstehende Stöcke des Internatsgebäudes verweisen darauf, dass die besten Zeiten des Internats der Eliteschule vorüber sind. Die nicht gebrauchten Betten des Internats sind mit Plastik überzogen, die Zimmer sind kahl. Das einzige warme Licht kommt vom Kopf der Puppe eines Glühwürmchens, das den Schülerinnen als Trost in der Dunkelheit dient. Die Leiterin des Internats kämpft gegen den Verlust des Glaubens an und leitet willige Schülerinnen zu religiösen Übungen an, die im Tragen eines Bußgürtels gipfeln. Sie leidet selbst an ihrer körperfeindlichen Theologie, doch kann sie ihren Emotionen nur in der Verborgenheit ihrer Zelle Ausdruck geben. Wie einen Panzer zieht sie sich die Ordenstracht über. „Was, wenn jemand die Lehre vom Sinn des Leidens radikal lebt? Was, wenn ein Kind aus Liebe zu Christus in den Tod zu gehen bereit ist?“ So formuliert Mader die Fragen hinter ihrem verstörenden Film. Es geht um geistlichen Missbrauch von Kindern. Nicht nur die Schwester ist dabei das Problem, sondern vor allem die Autorität in der Gestalt der Direktorin, die ihre Mitschwester gewähren lässt und bewusst ihre Augen vor dem Tun ihrer Untergebenen verschließt.