Manuel ist ein 8-jähriger, schüchtern wirkender Junge. Seine Mutter hat sich gerade zum zweiten Mal – diesmal endgültig – von seinem Vater getrennt. Mit der Anmeldung Manuels zur Gruppenberatung zum Thema Trennung/Scheidung versucht sie, ihren Sohn bei der Verarbeitung der Geschehnisse zu unterstützen.

Im Erstgespräch beschreibt die Mutter Manuel als zornig und streitsuchend. Ein immer wiederkehrendes, konfliktbeladenes Thema zwischen Mutter und Sohn ist der Besuchskontakt zu seinem Vater. Sie erzählt, dass der Vater sich während der Ehe kaum um das Kind gekümmert und zunächst auch nach der Trennung keinen Kontakt zu seinem Sohn gewollt habe. Erst seit einigen Wochen würde vom Vater der Wunsch geäußert, seinen Sohn zu sehen.  

Zu Beginn der ersten Stunde zeigt sich, dass eine vorübergehende Trennung des kleinen Manuel von seiner Mutter problemlos möglich ist, auch wenn er sich den anderen Kindern gegenüber zunächst schüchtern und abwartend verhält. Der beschriebene Zorn und die Streitlust lassen sich nicht erkennen – im Gegenteil: Manuel spricht leise und kaum verständlich. Von sich aus sucht er keinen direkten Sozialkontakt. In der zweiten Stunde fehlt Manuel unentschuldigt. Nach Rücksprache mit seiner Mutter besucht er in den  nächsten Wochen die Gruppenstunden wieder regelmäßig. Erste Veränderungen stellen sich ein: Er beginnt Kontakte zu knüpfen, spricht jedoch immer noch sehr leise. Erst im Laufe der Wochen wird Manuels Stimme lauter und er beginnt, seine Bedürfnisse zu äußern. Manuel fordert seinen Platz ein. Der Junge blüht auf, öffnet sich im Umgang mit den anderen Kindern – zieht sich jedoch weiterhin zurück, sobald seine Mutter ihn abholt.

Mit der zunehmenden Offenheit nehmen auch Manuels Fragen und Überlegungen bezüglich der Kontakte zu seinem Vater zu. Immer mehr tritt dieser ins Zentrum seiner Bilder und wird zum Hauptthema seiner Gespräche. Der starke Wunsch nach Kontakt zu seinem Vater kommt klar zum Ausdruck. Auch motiviert durch die anderen Kinder, beginnt Manuel den Kontakt zum Vater bei seiner Mutter einzufordern. Diese reagiert irritiert und erkennt noch nicht den Fortschritt, den ihr Junge macht, indem er seine Bedürfnisse äußert.

Im Gespräch mit der Mutter wird die wichtige Bedeutung des Kontaktes zum Vater für Manuel besprochen. Da die Mutter jedoch die eigene Kränkung, die sie vom Kindsvater während der Trennung erlebt hat, über die Bedürfnisse des Kindes stellt, ist sie für diese Anregungen zunächst nicht zugänglich. Ihre ablehnende Haltung begründet sie damit, dass ihr die Unternehmungen des Vaters mit seinem Sohn nicht gefallen.

Schließlich kann die Mutter dazu motiviert werden, gemeinsam mit der Beraterin Lösungen zu erarbeiten, die es für sie ermöglichen könnten, den Besuchskontakt zu erlauben. Auch wie sie diese Zeit sinnvoll für sich nutzen kann, wird thematisiert. Zudem verdeutlicht die Beraterin, dass nicht der Inhalt der Besuchskontakte das primäre Interesse der Mutter sein soll, sondern dass es in erster Linie wichtig ist, dass eine Beziehung zwischen Vater und Sohn bestehen bleibt.

Auch nach einer Trennung bleiben wir Eltern.  Die Beziehung des Kindes sowohl zur Mutter als auch zum Vater ist von großer Bedeutung. Dabei ist es wichtig, im Rahmen einer Beratung aufzuzeigen, dass die Paarebene im Trennungsfall hinter die Elternebene gestellt werden muss. Für die Eltern ist das nicht immer leicht und bedarf viel Energie – für die positive Entwicklung des Kindes allerdings unbedingt notwendig.  

Mag. Dr. Veronika Kiene