Der Grazer Psychotherapeut und Familienaufsteller Siegfried Essen referierte im Rahmen der Provikar-Lampert-Gedenkwoche über Vergebung als Abschied vom Opferdasein. In der ganzen spirituellen Tiefe und politischen Tragweite ging es am 18. November im großen Saal des Bildungshauses St. Arbogast um dieses große Thema.

In den Religionen ist Vergebung ein anderes Wort für Erlösung oder Erleuchtung. Sie ist Ende des Leidens. Sie ist das Ziel. Beinahe provokant beschrieb Essen Vergebung als eine universell wirkende Kraft, die jedem und jeder zugänglich ist: bedingungslos und unbegrenzt. Wer sich eingelassen hat, konnte sie sich in der folgenden Imaginationsübung gleich nehmen und sich verabschieden vom Opferdasein. Er leitete dazu an, sich von dieser transpersonalen Kraft alles zu holen, was ich damals gebraucht hätte an Nähe, Umarmung oder Respekt.

Opferdasein nannte Essen das Leben, in dem ich mich in mich selbst verkrümme und die Faust balle: ich jammere, ich beschuldige den Übel-Täter, ich klage, ich wende alle meine Energie auf um die Schuld beim anderen aufrecht zu erhalten. Es gleicht dem Leben eines Süchtigen. Vergebung heißt die Faust loslassen und Heilung geschieht von selbst. Sie ist Umkehr, Metanoia.

In dieser Überzeugung, dass Vergebung so leicht ist, weil sie unserer eigentlichen Wirklichkeit entspricht, übertrug Essen dieses Bild auf die Täter-Opferbeziehungen, die durch den Nastionalsozialismus entstanden sind. Es geht immer um einen Ausgleich, bei dem ich als Opfer auf die Macht verzichte, endlos Forderungen zu stellen und den Täter erpresse. Als Täter stelle ich mich meiner Schuld und bin bereit zu einer Wiedergutmachung. Es werden beide frei, wenn Vergebung passiert. Und beide, Opfer und Täter, können etwas für den Frieden tun.