Es gab sie, die Menschen, die ab 1938 zu verschwinden hatten. Bis heute drücken sich ihre Namen als Leerstellen in der Geschichte ab. In Rankweil versucht man diese Leerstellen zu füllen - und ruft die 300 Euthanasieopfer von Valduna bei ihren Namen und damit zurück ins Gedächtnis. Ein gemeinsamer Pilgerweg und neu erschienenes Buch setzen hier wichtige Schritte.

„Ja, die sind oben. Erster Stock“, lautet im Erdgeschoss die Antwort auf die Frage, wo es denn hier zum ARTelier gehe. Im Erdgeschoss herrscht entspannter Kaffeehausbetrieb.
Erster Stock also. Da ist es immer noch entspannt. Der Radio läuft. In der Ecke stehen Kaffee und Kekse, an den Wänden hängen Zeichnungen, die Regale sind voll und mittendrin sind die Lebenshilfe-Künstler bei der Arbeit. Die Künstler, das sind u. a. Annette, Gebi oder Anna. Und sie sind voll bei der Arbeit. Dabei geht es dieses Mal direkt ans Eingemachte und damit ist man auch schon beim Thema.

Menschen wie Annette, Gebi oder Anna

Was Annette, Gebi oder Anna da nämlich auf die langen Stoffbahnen stempeln, das sind die Namen jener Menschen, die zwischen 1938 und 1941 von Valduna aus in den Tod geschickt wurden. Es waren Menschen wie Gebi, Annette oder Anna. Sie galten als unwertes Leben und hatten zu verschwinden. So wurde es angeordnet. Helfer fanden sich genügend, die diese Anordnung in die Tat umsetzten. Und was "verschwinden" in diesem Zusammenhang bedeutete, das wussten nur zu viele auch.

Den Tod nicht dem Zufall überlassen

Die Geschichte der Gauanstalt Valduna gehört hier sicher zu jenen Kapiteln in der Historie, die man nicht gerne durchblättert. Umso wichtiger ist es, dass gerade das immer wieder geschieht. Das Buch „Das Nazi-Interregnum von Valduna“, das dieser Tage erscheint, ist hier ein wichtiger Beitrag. Verfasst von Johann Müller, einst Direktor der Wohltätigkeitsanstalt in Valduna, überarbeitete Thomas Albrich, Professor an der Universität Innsbruck, die Aufzeichnungen und machte diese in ihrer Art wohl einzigartige Chronik so nun einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich.
Was diese Chronik so einzigartig macht? Nun, Johann Müller, geboren im Walsertal, brachte nicht nur den Schilauf an den Arlberg – noch heute werden in Warth die Pfarrer Müller-Touren angeboten – sondern war bis 1938 auch Direktor der Wohltätigkeitsanstalt Valduna.

In Valduna existierten bis dahin zwei von einander getrennte Einrichtungen: die Wohltätigkeitsanstalt und die Landesirrenanstalt. Erstere war in kirchlicher Hand, zweite in jener des Landes. Mit dem Anschluss Österreichs wurden beiden Institutionen in der Gauanstalt Valduna zusammengelegt. Und nur wenig später begann die Aktion „T4“ auch in Vorarlberg zu greifen. „T4“, dieser Kürzel, der für die Berliner Adresse Tiergartenstraße 4 steht, ist bis heute gleichbedeutend mit der systematischen Ermordung von mehr als 70.000 Menschen mit körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen. Und in der Berliner Tiergartenstraße befand sich eben jenes Büro, in dem man sich mit der reibungslosen Abwicklung der NS-Euthanasie beschäftigte.

Ein gerettetes Zeugnis

Johann Müller, der kurz nach der Zusammenlegung der beiden Anstalten in Valduna als Direktor entlassen worden war, rettete sich nach Italien. Von dort aus gelang es ihm, den Kontakt nach Vorarlberg zu halten und so auch einige Dokumente aus dieser Zeit zu retten. Aus der Ferne schrieb er nun an seiner Chronik, die er nach eigenen Angaben 1942 abschloss.
Johann Müller verzeichnet glaubwürdig und authentisch, wie sich die Vorzeichen in Valduna veränderten und wie begonnen wurde, systematisch die Häuser zu leeren. Das heißt nichts anderes, als dass die Menschen, die dort zunächst untergebracht worden waren, nach Hartheim und damit in den sicheren Tod geschickt wurden. Am Standesamt Hartheim war man im Verzeichnen der Todesursachen kreativ. „Ermordet in Hartheim“ fand sich nie auf einer der Sterbeurkunden.
In Johann Müllers Aufzeichnungen finden sich nun auch die rund 300 Namen jener Frauen und Männer, die aus Vorarlberg nach Hartheim abtransportiert wurden. Zurück kam keiner von ihnen.

Wer sind die 300?

Und damit schließt sich der Kreis zur Gegenwart. 300 Namen stempeln, malen und sticken die Künstler und Künstlerinnen der Lebenshilfe auf die Leintücher, die zum einen beim Gedenktag am 4. November in Rankweil als auch bei der Buchpräsentation (14. November) zum Einsatz kommen werden. Es ist ein Stück weit auch ihre Geschichte. „Und ja, manchmal fragen sie mich auch, wer die Frauen und Männer denn waren, deren Namen sie auf diese Tücher stempeln. Dann reden wir mit ihnen über die Zeit des Nationalsozialismus“, erklärt Michaela Rüscher, Maltherapeutin und Malbegleiterin bei der Lebenshilfe. Manchmal tauche dann auch die Frage danach auf, ob das denn Menschen gewesen seien wie sie. Ja, lautet dann die Antwort.

Wider das Vergessen

300 Namen sind es. Es sind bekannte Namen, typische Vorarlberger Familiennamen. Lange Zeit wollten sie vergessen sein. In Rankweil rückt man sie nun ins Zentrum. Mit einem gemeinsamen Gedenken am Friedhof von Valduna. Mit dabei sind dann auch die Leintücher, die jetzt noch in Windeseile im ARTelier fertiggestellt werden – zum Beispiel von Annette, Gebi oder Anna.

Termine

„Wer ruft sie beim Namen?“, 4. November
14.30 Uhr, Start bei der Landesgedächtniskapelle in Rankweil, gemeinsames Pilgerweg zum Friedhof von Valduna,
16 Uhr, Gedenkfeier


14. November, 19 Uhr
„Das Nazi-Interregnum von Valduna“, Buchpräsentation mit Thomas Albrich (Universität Innsbruck)
und Diskussion mit Albert Lingg (früherer Chefarzt Valduna), Alfons Dür (früherer Landesgerichtspräsident), Angelika Schwarzmann (Bürgermeisterin Alberschwende), Vinomnasaal Rankweil.