Materielle Not, schwere psychische Belastungen, Beziehungskrisen, Arbeitslosigkeit - viele Menschen sind schon lange an und über ihrer Belastungsgrenze. "Wir tragen hier alle gemeinsam Verantwortung, ansonsten droht uns ein 'soziales Burnout´", betont Caritasdirektor Walter Schmolly.

Der materielle und psychische Druck auf Einzelpersonen und Familien, die mit weniger Ressourcen auskommen müssen, steigt derzeit deutlich. Aus Sicht der Caritas sind das teils Corona-Auswirkungen, teils aber auch langfristige Entwicklungen, die sich aktuell weiter aufschaukeln. Für Caritasdirektor Walter Schmolly sind es auf alle Fälle „Entwicklungen, mit denen wir uns nicht abfinden dürfen“. Er sieht entsprechenden Handlungsbedarf auf verschiedenen Ebenen.

Corona hat die Situation verschärft

Als Mitarbeiterin der Caritas-Familienhilfe ist Simone Müller tagtäglich in Familien, deren Alltag auf Grund von Krankheit oder Überforderung vorübergehend aus den Fugen geraten ist. Es sei deutlich spürbar, wie der Druck auf Familien immer größer wird und Eltern an Grenzen bringt, erzählt sie: „Es vergeht kaum eine Woche, in der ich nicht einen Einsatz habe, bei dem ein Elternteil unter psychischen Problemen leidet. Corona hat dies zusätzlich noch verschärft.“ Eine Erfahrung, die auch ihre KollegInnen in ähnlicher Weise machen: „Oft sind die Kraftreserven vor allem bei alleinerziehenden Elternteilen restlos aufgebraucht und nur durch Entlastung kann ein Krankenhausaufenthalt vermieden werden.“

Der Druck steigt

Ein Stimmungsbild aus den Sozialberatungsstellen Existenz&Wohnen zeigt ähnliches: „Druck wird aktuell zusätzlich verschärft durch die gegenläufige Entwicklung von Einkommen und Lebenserhaltungskosten: Die Schere zwischen Einkommen und Lebenserhaltungskosten geht laufend weiter auf, die Kosten für Grundbedürfnisse, wie beispielsweise das Wohnen steigen weit schneller als das Einkommen. Zudem werden soziale Sicherungssysteme tendenziell nach unten gefahren“, beschreibt Stellenleiter Christian Beiser. Das schlägt sich auch in Zahlen nieder, insbesondere im Bereich der anonymen Anfragen: Hier hat sich die Zahl gegenüber dem Jahr 2019 – also vor Corona – nahezu verdreifacht; von 190 auf über 500 im heurigen Jahr.

Gefordert in allen Bereichen

Wie der psychische Druck auf Einzelne und insbesondere auch auf Familien steigt, spürt man in allen Bereichen der Caritas. „Ein aussagekräftiger Indikator ist auch die Entwicklung der Neuanfragen in der Suchtberatung. Diese sind  gegenüber dem Vorjahr um 45 Prozent gestiegen“, berichtet Caritasdirektor Walter Schmolly, dass heuer in den ersten drei Quartalen bereits 813 Neuanfragen verzeichnet wurden. Auch die Angst vor Einsamkeit belastet Menschen schwer. Für die Caritas ist das in der Hospizarbeit spürbar, aber auch in vielen Begegnungen im Rahmen der Initiative LeNa – Lebendige Nachbarschaft. Gemeinsam mit Pfarren und Gemeinden werden durch LeNa unterschiedliche Initiativen ins Leben gerufen, um die Gemeinschaft zu stärken.

Auch Unsicherheit verstärkt Überforderung

Der psychische Druck sei sehr oft mit dem Erleben von Unsicherheit verbunden. „Für die Menschen, die bei der Caritas Hilfe suchen, ist es die tiefe Verunsicherung, mit der man zu tun hat, wenn man sich am Anschlag fühlt, weil es keine Reserven mehr gibt, auf die man zurückgreifen kann, weder finanzielle Reserven noch Beziehungsnetze noch Zukunftsperspektiven. Da ist kein Handlungsspielraum mehr, nur noch die Angst, dass die nächste Kleinigkeit in die totale Überforderung führt“, fasst Walter Schmolly zusammen. „Wir begegnen auch immer mehr Menschen und Familien, die gleichzeitig mit mehreren Problemlagen zu kämpfen haben: materielle Not, schwere psychische Belastungen, Beziehungskrisen, Arbeitslosigkeit etc. Diese Überlagerung von Problemen erhöht den Druck exponentiell und fordert uns alle – Hilfseinrichtungen ebenso, wie die Gesellschaft. Denn wenn Menschen sich aus Überforderung und Erschöpfung zurückziehen, wird es immer schwieriger, sie wieder zurück in die Mitte zu holen. Wir tragen hier alle gemeinsam Verantwortung, ansonsten droht uns ein `soziales Burnout´“, macht Schmolly bewusst.

Hebel richtig ansetzen

„Das sind Entwicklungen, mit denen wir uns nicht abfinden dürfen, die betroffenen Menschen brauchen Hilfe und Unterstützung“, so der Caritasdirektor weiter: „Ein wichtiger Hebel liegt in den Händen der politisch Verantwortlichen. Da geschieht derzeit zwar einiges“, nennt Walter Schmolly das Chancenpaket des Landes für Kinder und Jugendliche oder die EU-Kindergarantie. Dringend angegangen werden sollte auf Landes- und Bundesebene aus Sicht der Caritas die Nachbesserung der Sozialhilfe. „Gerade für Familien mit mehreren Kindern, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, hat die letzte Neuregelung zu Beginn dieses Jahres zu einer teils deutlichen Verschlechterung geführt.“

Rasch helfen und zusammenstehen

Über das durch die politisch Verantwortlichen geknüpfte soziale Netz hinaus braucht es in vielen Situationen rasche und unbürokratische Hilfe, um fürs Erste Druck herauszunehmen und eine Überbrückung zu schaffen, bis die anderen Maßnahmen greifen. Angesichts der massiven Entwicklungen braucht es jetzt ganz besonders den Geist des sozialen Zusammenhalts. „Wenn Menschen zusammenstehen und diejenigen, die etwas geben können, denjenigen helfen, die gerade Unterstützung brauchen, können wir vieles an Leid verhindern und zum Besseren verändern“, so der Caritasdirektor.

Sie möchten helfen?

Aktuell ruft die Caritas besonders dazu auf, gemeinsam Familien und Einzelpersonen in Vorarlberg zu unterstützen, die sich in einer akuten Notlage befinden.
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Kennwort: Inlandshilfe 2021, www.caritas-vorarlberg.at