Wohnungslosigkeit, jaja, das gibt es. Aber sicher nicht bei uns. Sicher nicht hier. Ganz so sicher darf man sich da allerdings nicht mehr sein. Denn Wohnungslosigkeit und prekäres Wohnen - sprich das Wohnen unter menschenunwürdigen Bedingungen - sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Auch bei uns.

Mal angenommen: Da ist eine Wohnung. Groß ist sie nicht. 22 Quadratmeter oder so. Nicht berauschend, aber so für den Übergang ganz ok, oder? Ja, das wäre wohl so, wenn auf diesen 22 Quadratmetern vielleicht nicht sieben erwachsene Menschen wohnen würden.

Oder, anderes Beispiel. Stellen wir uns zwei erwachsene Menschen vor. Sie sind verheiratet - oder auch nicht. Auf jeden Fall klappt es nicht mehr so wirklich. Gemeinsam haben sie sich eine Wohnung angelacht. Mittelgroß. Jetzt bräuchten sie zwei kleinere. Die sind aber im Verhältnis teurer. Also, was macht man. Beziehung verlängern ist eine Lösung, zurück zu den Eltern eine andere  - das Auto eine dritte.

Oder - noch einmal ein anderes Szenario - dieses Mal mit Seitenwechsel. Man stelle sich also vor, man habe eine nette Wohnung zu vermieten. Preis nach eigenem Ermessen durchaus entsprechend. Anwärter/innen gibt es genug. Wem gibt man dem Zuschlag? Sicher nicht der Familie, die für die Anzahlung einen Mikrokredit aufnehmen müsste, oder?

Ja, das alles gibt es in Österreich - jetzt. Tag für Tag. Nicht in Vorarlberg? Doch auch hier, und zwar ganz genau so.

1111 "Fälle", 1920 Menschen - davon 549 Kinder

Ein Ort, an dem man die zunehmend schärfere Gangart in Sachen "Wohnen" seit längerem seismographisch wahrnimmt, ist unter anderem die ARGE Wohnungslosenhilfe. In ihr haben sich Einrichtungen und Organisationen zusammengeschlossen, die allesamt in der stationären wie ambulanten Wohnungslosenhilfe tätig sind. Unter stationärer Wohnungslosenhilfe versteht man zum Beispiel die Arbeit der Kolpinghäuser oder Kaplan Bonetti. Hier geht es darum, Menschen Unterkunft, Verpflegung und sozialarbeiterische wie auch gesundheitspflegerische Beratung zukommen zu lassen. Der ambulanten Wohnungslosenhilfe begegnet man dann zum Beispiel bei der Caritas-Stelle "Existenz und Wohnen", also dort, wo Menschen zwar von Wohnungslosigkeit bedroht sind, aber der Schwerpunkt auf eine begleitende Unterstützung zur Selbsthilfe gelegt wird.

Vertreter der ARGE Wohnungslosenhilfe beim offenen Hearing der Caritas Vorarlberg zum Thema "Wohnungslosigkeit und prekäres Wohnen" war dabei Michael Hämmerle von Kaplan Bonetti. Seine Einführung ins Thema war kurz, offen und schonungslos. Der Oktober ist in der Datenerhebung der ARGE der Referenzmonat. Soll heißen, jedes Jahr im Oktober liefern die Einrichtungen der ARGE ihre Daten ab, um so eine Momentaufnahme der aktuellen Situation in Sachen "Wohnen" im Land zu erheben. "Das ist wirklich eine Momentaufnahme, die keinerlei Rückschlüsse auf die Entwicklung innerhalb eines Jahres zulassen würde", betont Hämmerle. Aber auch der Blick auf den Oktober macht einiges deutlich. 1111 "Fälle" zählte man dabei 2018 in den Einrichtungen der Vorarlberger Wohnungslosenhilfe. Hinter diesen 1111 Fällen verbergen sich 1920 Menschen - und davon 549 Kinder, die akut von Wohnungslosigkeit bedroht sind oder unter prekären Bedingungen wohnen müssen.

Wenn die Miete das Einkommen frisst

Natürlich sieht man auch hier im Vergleich von Oktober zu Oktober den starken Anstieg um das Jahr 2015, als Österreich zum Zielland vieler Menschen auf der Flucht wurde. Man sieht auch, dass die Zahlen derzeit leicht sinken - mit der Betonung auf leicht. Interessant auch der Vergleich der weiteren Kennzahlen. So sind rund 68% der von Wohnungslosigkeit oder prekärem Wohnen bedrohten Menschen Männer, 46,3% sind österreichische Staatsbürger/innen und 95% aller von Wohnungslosigkeit oder prekärem Wohnen Bedrohten sind im erwerbsfähigen Alter - also zwischen 18 und 65 Jahre alt.

62% all jener, die im vergangenen Oktober in einer Einrichtung der Vorarlberger Wohnungslosenhilfe vorstellig wurden, lebten davor in ungesicherten Wohnverhältnissen. 40% aller Oktober-"Fälle" lebten bereits davor in Einrichtungen für Wohnungslose. Und noch eine Zahl lässt aufhorchen. 23% der Vorsprechenden gaben nämlich an, bereits jetzt mehr als 23% ihres Einkommens allein für die Miete aufbringen zu müssen, bei rund 22% sind es sogar bis zu 50% des Einkommens. Wenn man bedenkt, dass als Faustregel gilt, dass es finanziell schwierig wird, sobald mehr als 25% des Einkommens für die Miete draufgehen, dann heißen diese beiden Zahlen durchaus etwas.

Stichwort leistbarer Wohnraum

Nämlich, dass sich hier eine ordentliche Schieflage entwickelt. Die beobachtete auch Dr.in Evelyn Dawid aus Wien, die 2015 von der österreichischen Armutskonferenz den Auftrag für eine Fachstudie erhielt. Beleuchtet wurden die Dreh- und Angelpunkte des "Menschen(un)würdigen Wohnens" in Österreich. Interessant ist dabei, dass Evelyn Dawid bereits 2005 den Auftrag für eine derartige Studie erhielt und sich so die Entwicklungen und Verschiebungen innerhalb der letzten 10 Jahre gut nachvollziehen ließen. Waren es 2005 vor allem die Beschäftigung, die Migration und die Gesundheit, die als Armutsfaktoren genannt wurden, so poppte 2015 das Thema des "Wohnen" plötzlich dominant auf. Für die aktuelle Studien führte Evelyn Dawid übrigens leitfadengestützte Interviews mit 34 Expert/innen von 26 NGOs aus ganz Österreich. Projektpartner waren neben der Österreichischen Armutskonferenz auch die WU Wien und das Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz.

Der Schluss, der sich aus den Interviews der Studie ziehen lässt, ist so einleuchtend wie grundsätzlich bekannt: Es gibt zu wenig leistbaren Wohnraum für Menschen mit geringerem Einkommen. Als ein Grund dafür wird genannt, dass die Miet- und Betriebskosten in den letzten Jahren stärker gestiegen sind, als die Zuschüsse aus sozialen Unterstützungssystemen. Und plötzlich wird das Abdecken der laufenden Kosten fürs Wohnen zum Problem. Hinter Salzburg und Tirol liege Vorarlberg hier übrigens an dritter Stelle, was die Quadratmeterpreise an Wohnfläche im Österreichvergleich betrifft.

Die Nebenwirkungen der Wohnungsnot

Das führt in weiterer Folge zu einer ganzen Reihe an "Nebenwirkungen", das prekäre Wohnen beziehungsweise die Wohnungslosigkeit ist eine davon. Deutlich lasse sich zum Beispiel ein Anstieg von zu kleinen oder Wohnungen in sehr schlechtem Zustand verzeichnen. Das Beispiel mit den 22 Quadratmetern und den sieben Erwachsenen, die auf ihnen leben, ist ernster Alltag. Schimmel, Feuchtigkeit, schlechte Fenster, Türen, Heizungen sind die andere Seite. Auch die "versteckte Wohnungslosigkeit" wird immer mehr zum Thema. Frauen, die eine Beziehung eingehen, um nicht auf der Straße zu stehen, Männer, die mal hier bei einem Freund und mal dort bei Bekannten unterkommen, sind oft zu diesem Versteckspiel gezwungen. Dazu kommt, das "Flaschenhalsproblem", mit dem viele Sozialeinrichtungen zunehmend konfrontiert sind. Ein Beispiel: In Notwohnungen finden Menschen in akuten Krisensituationen Unterkunft. Nach einer gewissen Frist - so der Plan - werden sie wieder in den regulären Wohnmarkt entlassen. Was aber, wenn genau das nicht möglich ist, wenn die Notwohnungen nicht frei werden, weil keine passende, leistbare Wohnung gefunden wird? Dann, ja dann kommt es zum Rückstau und den oder die Letzten beißen die sprichwörtlichen Hunde.

In der Mitte der Gesellschaft angekommen

Dass das "Recht auf Wohnen" jetzt übrigens in der Mitte der Gesellschaft angekommen sei, das bestätigte auch Dr.in Claudia Mahler vom Deutschen Institut für Menschenrechte beim Hearing der Caritas Vorarlberg. Das "Recht auf Wohnen" findet sich übrigens bereits 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und wurde mit den beiden Übereinkünften - dem Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und dem Pakt über bürgerliche und politische Rechte - 1976 von den Mitgliederstaaten der Vereinten Nationen ratifiziert. Das heißt, das Recht auf Wohnen ist ein Menschenrecht, das so auch in und für Österreich gilt.

Dabei schließt dieses Recht den Schutz der Wohnenden, die Bezahlbarkeit des Wohnraums, die Bewohnbarkeit einer Unterkunft an sich und die kulturelle Angemessenheit mit ein. Soll heißen: angemessenes Wohnen richtet sich immer nach den jeweiligen Standards eines Landes aus und muss Partizipation,  - also Teilhabe - Nichtdiskriminierung und den Zugang zum Recht ermöglichen. "Die Staaten sind hier eindeutig in der Pflicht, die Rechte jedes Einzelnen und jeder Einzelnen zu achten und einen Rahmen zur Erfüllung des Rechts auf Wohnen zu bieten", betonte Claudia Mahler. 

Damit sich etwas ändert

Nun, das Hearing der Caritas Vorarlberg ändert an der akuten Situation zunächst einmal sicher nichts. Aber es ist wichtig und wird immer wichtiger, dem Thema der Wohnungslosigkeit und des prekären Wohnens eine Plattform und die dazugehörende Öffentlichkeit zu verschaffen - damit sich etwas daran ändern kann, dass im Oktober 2018 in Vorarlberg 549 Kinder akut von Wohnungslosigkeit bedroht waren.