Was bedeutet es, von der Mindestsicherung leben zu müssen? Jonathan Jancsary, bei der Caritas Vorarlberg zuständig für Grundlagenarbeit, geht dieser Frage nach und führt derzeit Interviews mit Menschen, die auf Grund ihrer persönlichen Lebenssituation auf Mindestsicherung angewiesen sind.

Wer von Armut spricht, der denkt in der Regel an so genannte „manifeste Armut“, das heißt, an Menschen ohne Obdach, ohne Wohnung und ohne die Möglichkeit, sich Essen und Trinken leisten zu können. Diese Fälle gibt es in Vorarlberg glücklicherweise nur in kleiner Zahl. Armut bedeutet aber auch noch etwas völlig anderes: Armut bedeutet Angst, Armut bedeutet Scham, Armut bedeutet das Gefühl zu haben, mit der Welt und der eigenen Situation überfordert zu sein. Armut bedeutet des Weiteren, sich minderwertig zu fühlen. Zwei Familien und ihre Geschichten:

„Ich schäme mich vor meiner Lehrerin und meinen Schulkameraden“

Zwei minderjährige Kinder, 11 und 13 Jahre alt, einer fünfköpfigen Familie gehen in die Neue Mittelschule. Äußerlich merkt man ihnen nicht an, dass sie und ihre Familie maßgeblich auf Leistungen der Mindestsicherung angewiesen sind, durch die die Kosten für die Wohnung abdeckt werden und mit deren Hilfe sie sich das kaufen können, was sie im Alltag zum Leben brauchen – beispielsweise Kleidung. Die Armut wirkt subtiler: Der 13-jährige Sohn hat im Informatikunterricht Schwierigkeiten, weil man sich zu Hause keinen Computer leisten kann, auf denen er üben und die Hausaufgaben machen kann. Er traut sich dies der Lehrerin aber nicht zu sagen, zum einen weil er sich vor ihr schämt, zum anderen aber auch, weil er nicht möchte, dass die Klassenkameraden davon erfahren. Deshalb erfindet er immer neue Ausreden, warum die Hausaufgaben nicht gemacht wurden. Er erzählt es aber auch seinen Eltern nicht, weil er nicht möchte, dass diese zu der Lehrerin gehen, um die Situation zu beschreiben. Lösung für die Situation hat er bislang keine: die Noten werden schlechter, der Junge verliert den Anschluss an die Klasse und an die Klassengemeinschaft. So beginnt sich die Spirale gefährlicher Ausgrenzung aus Alltagssituationen heraus zu drehen.

Altersarmut – Leben ohne Perspektive

Eine knapp 50-jährige Frau präsentiert in ihrer Wohnung auf der Couch eine Vielzahl von behördlichen Schreiben, welche Kombination aus Heizkostenzuschuss, Mindestsicherung und weiteren Leistungen sie erhält, um leben zu können. Obwohl schon diese Sammelsurium für sie schwer zu ordnen und zu verstehen ist, macht ihr vor allem eines Sorgen: Der Amtsarzt hat sie nach längerer und schwieriger Krankheit kürzlich gesund und beschränkt arbeitsfähig geschrieben, obwohl sie permanent Schmerzen und vor allem Angst davor hat, auf dem Arbeitsmarkt nicht bestehen und ihre Leistung nicht abrufen zu können. Über diesen Schwierigkeiten thronen aber noch größere Sorgen, nämlich jene, dass sie ihren Sohn immer wieder um Geld bitten muss und dass sie aufgrund ihrer Krankheit nicht mehr richtig auf ihren Enkel aufpassen kann. Wenn man mit ihr über ihren Enkel spricht, erzählt sie, dass dieser schon verstehen und merken würde, dass es der Oma nicht gut gehe und dass der knapp 7-Jährige mehr auf seine Oma als sie auf ihn aufpasse, wenn sie es wieder einmal auf Grund ihrer Schmerzen nicht schafft, mit ihm nach draußen zum Spielen zu gehen.

Wie kann Würde bewahrt werden?


„Wer mit BezieherInnen der Mindestsicherung länger und ausführlicher spricht, erkennt schnell, dass jede Person eine spezifische Geschichte zu erzählen hat und dass ein Leben in der Mindestsicherung nicht nur kompliziert, sondern auch alles andere als gewünscht ist“, fasst Jonathan Jancsary zusammen. „Die Menschen in der Mindestsicherung haben Strategien gefunden, um ihre Situation zunächst positiv zu beschreiben, um ihre Würde zu bewahren und dem Gegenüber zu signalisieren, dass man in der Welt `zurechtkommt´. Nach und nach lösen sich diese Strategien im Gespräch auf und man kann zumindest erahnen, was für schmerzliche Erfahrungen sich hinter den abstrakten „Fällen“ verstecken, die „motiviert“, sprich: gekürzt und sanktioniert, werden müssen, weil sie – so wird ihnen gerne leichtfertig unterstellt – ansonsten das angenehme Leben in der so genannten „Hängematte“ genießen würden.“