Seit Mai 2019 arbeitet die 32-jährige Nenzingerin Laura Maria Scherer als Projektmanagerin für die Caritas Österreich. Neben der humanitären Hilfe in der Ukraine war sie zudem für Kinderprojekte zuständig. Vor dem Ausbruch der Coronapandemie war Scherer neun Monate lang in der Ostukraine vor Ort. Ebendort, wo jetzt Krieg herrscht. Im Interview spricht sie über ihren Bezug zur Ukraine, die dortigen Projekte und die aktuelle Lage im Kriegsgebiet.

Wann waren Sie zuletzt in der Ostukraine tätig?
Ich bin bei der Caritas seit knapp drei Jahren für Kinderprojekte und humanitäre Hilfe in der Ostukraine zuständig. Bis zum Ausbruch der Covid-19 Pandemie war ich in Kyiv und habe von dort aus unsere Projekte in der Ostukraine betreut und natürlich auch regelmäßig besucht - das ist durch das Coronavirus natürlich stark eingeschränkt worden. Meine letzte Reise in die Ostukraine war im Oktober 2021.

Welche Projekte haben Sie dort begleitet?
Die Projekte sind ganz unterschiedlich. Die humanitäre Hilfe der Caritas ist breit aufgestellt und in den verschiedensten Themenbereichen, wie etwa Gesundheit, Trinkwassersicherheit, Schutz oder Sicherung der Lebensgrundlagen, aktiv. Wir leisten akute Nothilfe, etwa für ältere Menschen, die im Winter nicht genügend Heizmaterialien haben, oder für armutsgefährdete Familien, denen das Geld fehlt, um Lebensmittel zu kaufen. Es laufen aber auch längere Projekte, in denen wir einerseits die Grundbedürfnisse der Menschen decken, gleichzeitig aber lokale Ressourcen aufbauen und Eigenverantwortung stärken. Psychosoziale Unterstützung wird in den vom Konflikt betroffenen Gebieten in Donetsk und Luhansk Oblast beispielsweise oft so geleistet, dass mobile Teams von „außen“ in die betroffenen Dörfer fahren, einmal pro Woche für ein oder zwei Stunden vor Ort sind, und wieder fahren. Wir haben vor Ort Sozialarbeiter/innen geschult und ausgebildet, die jetzt in insgesamt 17 Schulen täglich kinderfreundliche Aktivitäten und niederschwellige psychosoziale Unterstützung für Kinder und Familien anbieten. Solche Kapazitäten und Strukturen bleiben über jedes Projektende hinaus erhalten.

Wie war es vor Kriegsausbruch um die Lebenssituation der Menschen vor Ort bestellt?
Durch Reformbemühungen hat es in den letzten Jahren positive Entwicklungen gegeben, dennoch gehört die Ukraine zu den ärmsten Ländern in Europa. In ländlichen Gegenden und vor allem in den seit 2014 vom Konflikt betroffenen Gebieten in Donetsk und Luhansk Oblast ist Armut weit verbreitet. Die Bevölkerung dort ist durch die fehlende Infrastruktur und den schwierigen Zugang zu Basisdienstleistungen besonders vulnerabel. Zudem sind rund ein Drittel der Bevölkerung ältere Menschen, von denen viele eine chronische Krankheit oder körperliche Behinderung haben und alleine leben und schon vor der Eskalation nur schwer zurechtgekommen sind. In diesen Gebietet wächst leider auch eine ganze Generation Kinder auf, für die Konflikt und Krieg „normal“ geworden sind.

Wie stufen Sie die Lage im Kriegsgebiet derzeit ein?
Die Lage ist dramatisch und nach wie vor extrem unübersichtlich. Viele Städte sind umkämpft oder stehen unter Beschuss, manche Gebiete sind schon von russischen Truppen eingenommen worden. Es gibt bereits hunderte Tote, darunter auch zivile Opfer, auch Kinder. Häuser sind zerstört, die Bankfilialen sind zu, es gibt an den Tankstellen teilweise keinen Benzin mehr und leere Regale im Supermarkt. Schon vor der Eskalation des Konflikts haben rund 2.9 Millionen Menschen humanitäre Hilfe benötigt, diese Zahl wird rasch steigen, die UN geht von  bis zu 18 Millionen Menschen aus, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.


Haben Sie Kontakt zu Freunden und Bekannten vor Ort? Wenn ja, wie gehen die Menschen mit dieser Ausnahmesituation um?
Ich halte über Telefon und E-Mail Kontakt zu meinen Freund/innen vor Ort, und natürlich zu meinen ukrainischen Arbeitskolleg/innen. Viele haben schon versucht in sicherere Landesteile oder ins Ausland zu gelangen oder sitzen auf gepackten Koffern und suchen Schutz in Kellern. Teilweise gibt es weder Strom, Wasser noch Heizung. Es ist für alle eine unvorstellbar schwierige und belastende Situation. Ich habe großen Respekt vor meinen ukrainischen Kolleg/innen, die selbst betroffen sind, sich um ihre Familien sorgen, und dennoch mit außerordentlichem Engagement und großem Herz alles dafür tun, um die Hilfe aufrechtzuerhalten und auf die neuen Herausforderungen zu reagieren.

Wie ist es um die humanitäre Hilfe vor Ort bestellt?
Der Bedarf ist gewaltig. Die Menschen, die in die westlichen Landesteile geflüchtet sind benötigen Schutz, Trinkwasser, warme Mahlzeiten, Hygieneartikel, Unterkunft und psychosoziale Unterstützung. Unsere Partnerorganisationen haben hier rasch entsprechende Strukturen aufgebaut und helfen. Gleichzeitig gilt es die soziale Versorgung aufrechtzuerhalten, beispielsweise in unseren landesweiten Kinderzentren oder Familienpflegeheimen. Manche konnten in sicherere Gebiete evakuiert werden, andere suchen nach wie vor Schutz und harren aus. Sobald der Zugang zu humanitärer Hilfe möglich ist, werden in den derzeit umkämpften und stark betroffenen Regionen werden Menschen, die nicht fliehen konnten oder wollten, Unterstützung bei der Versorgung mit Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs und den Zugang zu Basisdienstleistungen benötigen.

Wie geht es Ihnen persönlich mit der aktuellen Situation? Gelinget es Ihnen angesichts der Umstände Trost und Zuversicht zu finden?
Dass der Konflikt so eskalieren würde, haben wohl die wenigsten tatsächlich erwartet. Die Ukraine ist mir wirklich ans Herz gewachsen, die Zerstörungen und die Not der Menschen machen mich daher sehr betroffen. Tröstlich wäre da nur eine rasche, friedliche Lösung des Konflikts. Ich finde es aber wahnsinnig schön zu sehen, dass es in dieser Krise so unglaublich viel an Unterstützung, Hilfe, Solidarität und Mitmenschlichkeit gibt, sowohl hier in Österreich als auch in den Nachbarländern der Ukraine, wo schon mehr als eine halbe Million Flüchtlinge aufgenommen worden sind.

Denken Sie Ihr Engagement im derzeitigen Kriegsgebiet wieder aufnehmen zu können?
Das hängt von der Sicherheitslage und der weiteren Entwicklung ab. Sobald sich die Lage etwas stabilisiert hat, werden Besuche vor Ort bei unseren Projekten und Partnerorganisationen sicher wieder möglich sein.