Der Begriff "Sozialtourismus" war 2013 das "Unwort des Jahres". Sozialtourismus ist laut NGO-Vertretern, Sozialrechtsexperten und EU-Repräsentanten aber noch weit mehr als das: es ist politische Angstmache. Und keine reale Bedrohung. Als "unfassbar scheinheilige Entschuldigung dafür, nicht allen helfen zu müssen" bezeichnet Caritas-Präsident Michael Landau nun auch die Debatte rund um das Thema, die u.a. 4,1 Millionen obdachlose Menschen betrifft.

Bettler stören das Straßenbild und sind schlecht für den Tourismus. Deshalb vertreibt man sie aus Parks und weg von U-Bahn Stationen oder öffentlichen Gebäuden. Deshalb gibt es immer wieder Versuche, ein generelles Bettelverbot durchzusetzen. Deshalb werden sie immer noch mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Nichtsdestotrotz sind Bettler und Armutsmigranten aus EU-Staaten ein dieser Gesellschaft.  Armut von Menschen einfach „unsichtbar zu machen“, würde keine Probleme lösen, erklärt Caritas-Präsident Landau mit Verweis auf die immer wieder diskutierten Bettelverbote.

Grotesk, ärgerlich und obszön
Dennoch ist der "Sozialtourismus" nach wie vor in aller Munde.  Die Debatte um einen angeblichen Sozialtourismus innerhalb der Union sei „grotesk, ärgerlich und obszön“, zugleich eine „unfassbar scheinheilige Entschuldigung dafür, nicht allen helfen zu müssen“, hielt Landau diese Woche fest.

Debatte, die keiner braucht
Im Frühjahr 2013 hätten die Innenminister Österreichs, Deutschlands, Großbritanniens und der Niederlande eine Debatte losgetreten, „die kein Mensch braucht“. Wer einem Sozialtourismus in Europa das Wort rede, spreche den Ärmsten der Armen ihre Not ab, kritisierte Landau. Die arbeits- und sozialrechtlichen Bestimmungen der EU-Mitgliedsstaaten seien ohnehin so gestaltet, dass sie Sozialtourismus „fast unmöglich machen“.

Energiejongleur
Was die länderübergreifende Hilfe für Staaten mit hoher Armut betrifft, nahm Landau die Europäische Union in die Pflicht: „Ich erwarte mir, dass die EU genau so viel Energie in die Armutsbekämpfung investiert wie in die Bankenrettung.“ Konkret forderte der Caritas-Präsident eine Erhöhung der Mittel des Europäischen Sozialfonds und einen einfacherer Zugang zu diesen Mitteln in den Ländern vor Ort.

Gold, Silber, Blech
Es gehe seiner Meinung nach darum, jetzt die Weichen in Richtung einer echten Sozial- und Solidaritätsunion zu stellen; von dieser sei die EU noch weit entfernt. „In Fragen der Sicherheit bekommt die EU Gold, in Wirtschaftsfragen Silber, aber in der Sozialfrage hat sie nicht einmal Blech verdient“, gab Landau Zensuren nach dem Medaillenschema bei Olympia. 

Niedriger Prozentsatz
Rückenwind erhält er von  Richard Kühnel, dem Leiter der EU-Kommissionsvertretung in Österreich:  Um die Fakten hinter dem Schlagwort Sozialtourismus zu prüfen, habe die Kommission 2013 eine Studie in Auftrag gegeben, die ein klares Bild zeichne: So machten die „nicht aktiven EU-Migranten“, also jene ohne Beschäftigung, in den Mitgliedsstaaten ganze 0,7 bis 1 Prozent der Bevölkerung aus - Tendenz sinkend.

4,1 Millionen obdachlos, 125 Millionen armutsgefährdet
Die Beschäftigungsrate der Migranten sei außerdem in allen EU-Ländern höher als die der jeweiligen Landesbevölkerung, wies Kühnel hin. Die Studie bekräftige auch einmal mehr, dass Migranten „im Schnitt mehr in das Sozialsystem der Ländern einzahlen, als sie daraus erhalten“.

Kühnel teilte aber auch die Ansicht Landaus, dass angesichts von 125 Millionen armutsgefährdeten EU-Bürgern und 4,1 Millionen Menschen ohne Obdach - darunter immer mehr Frauen, Kinder und Familien - Handlungsbedarf besteht. Die EU sei zwar nicht als Sozial-, sondern als Wirtschaftsunion konzipiert, seitens der Kommission gebe es aber durchaus Bestrebungen, der sozialen Komponente mehr Gewicht zu geben. So wolle man etwa bis 2020 die Zahl der armutsgefährdeten Menschen um 20 Millionen senken. Ohne den Beitrag der Mitgliedsstaaten „geht da aber nichts“. Schließlich obliegen die Sozialkompetenzen und -budgets den einzelnen Staaten. (red/kathpress)