Gedanken zum Sonntag von Bischof Benno Elbs

Menschen träumen oft und gerne den Traum der Unverwundbarkeit. Ein makelloses äußeres Erscheinungsbild, ein glatter und lückenloser Lebenslauf, ein perfektes Vermarkten der eigenen Stärke: Das alles scheint zu den Grundbedingungen zu gehören, wenn man heute beruflich und privat Erfolg haben möchte. Auf der anderen Seite merke ich in Gesprächen: Viele Menschen – auch die, die nach außen stark und abgeklärt wirken – sind in ihrem Innersten verwundet. Verwundet durch eine Beziehung, die in die Brüche gegangen ist. Unversöhnt mit der eigenen Vergangenheit oder gekränkt aufgrund eines Streits in der eigenen Familie. Und dann gibt es auch noch die vielen Gesichter der Armut. Sie sind oft versteckt und nicht auf den ersten Blick sichtbar. Denn Armut schämt sich. Persönliche Not und das Angewiesen-Sein auf die Hilfe anderer halten Betroffene, wenn es irgendwie möglich ist, verborgen.

100-Jahre Caritas

Umso wichtiger ist es, dass es Menschen und Organisationen gibt, die genau hinschauen, helfen und heilen. Eine von ihnen – die Caritas – feiert in diesem Jahr ihr 100-jähriges Bestehen. Was Anfang der 1920er Jahre aus der Asche des 1. Weltkrieges entstand, ist durch den beherzten Einsatz unzähliger haupt- und ehrenamtlich Engagierter zu einer Hilfsorganisation gewachsen, die aus der sozialen Landschaft und der Zivilgesellschaft Österreichs nicht mehr wegzudenken ist. Als Caritas-Bischof bin ich unendlich dankbar zu sehen, wie viele Menschen Nächstenliebe und Solidarität leben – auf der Höhe der Zeit und auf der Höhe des Evangeliums.  

Beim 100-Jahr-Jubiäum der Caritas geht es weniger darum, die Vergangenheit einer Hilfsorganisation zu feiern, sondern die Zukunft möglichst vieler Menschen positiv zu gestalten. Beides – der Blick nach vorn und zurück – ist getragen von der Überzeugung, dass der Einsatz von Einzelnen einen Unterschied macht. Und so hat die Caritas im Laufe des letzten Jahrhunderts unglaublich viele Menschen erreicht: mit einem Dach über dem Kopf und einem warmen Bett; mit einem Teller heißer Suppe; mit tröstenden Worten und seelischer Begleitung, wenn das Leben brüchig geworden ist; am Ende des Lebens oder auch in jungen Jahren, wenn es darum geht, den eigenen Weg ins Leben zu finden.

Blickwechsel

Die Armen und Notleidenden sind jedoch nicht in erster Linie Empfänger von Almosen. Sie sind Lehrerinnen und Lehrer für unser Leben, die unseren Blick auf die Welt verändern. Denn es verändert meinen Blick auf die Fragen vom Sterben, wenn ich die Hand eines Sterbenden in der Palliativstation halte und vielleicht eine angstvolle Nacht mit ihm oder ihr durchwache. Es verändert meinen Blick, wenn ich mit einem alten Menschen in einem Sozialzentrum rede und dabei seine Einsamkeit spüre. Es verändert meinen Blick, wenn ich in die Augen einer Mutter schaue, die geflüchtet ist, ein Kind in den Armen hält und auf ein menschenwürdiges Leben hofft.

Dieser Blickwechsel ist heilsam. Er sprengt die Fesseln des Egoismus und holt uns aus dem Gefängnis des eigenen Ich heraus und hinein in jene Weite, die in der Hilfe von Mensch zu Mensch entsteht. Wenn wir in das Gesicht dieser Menschen blicken, dann eignen wir uns auch den Blick Jesu an, der an den Leidenden und Armen nicht achselzuckend vorbeigegangen ist. Vielmehr hat er die vermeintlichen Außenseiter in die Mitte der Gesellschaft und seiner Botschaft vom Reich Gottes geholt. Ich bin dankbar, dass viele Menschen heute in den Fußspuren Jesu unterwegs sind, die Not sehen und handeln und in all dem Nächstenliebe in Wort und Tat leben.

Bischof Benno Elbs