Gedanken zum Sonntagsevangelium von Bischof Benno Elbs.

„Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen! Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch beschimpfen!“ Dieser unerhörte Satz steht am Beginn des Evangeliums am morgigen Sonntag (Lukas 6,27-38). Der Aufruf Jesu zur Feindesliebe gehört zu den schwierigsten Texten des Neuen Testaments. Feindes-Liebe – ist das nicht schon ein Widerspruch in sich? Eine moralische Überforderung? Eine Provokation? Und trotzdem: Die Forderung Jesu steht so da. Was machen wir daraus?

Eine Wahrheit des Lebens ist auch: „Der Mensch ist dem Menschen ein Ellbogen“. Was wäre angesichts dieser Feststellung von Reiner Kunze naheliegender, als die Welt in Freund und Feind einzuteilen: in Menschen, bei denen eine gegenseitige Wertschätzung vorhanden ist, die einen gern haben, bewundern oder einem nützen; und in die anderen, die einen verachten, verleumden oder mit dem Ellbogen aus dem Weg räumen. Unnötig zu betonen, dass die Pandemie dieses Lagerdenken auf eine unrühmliche Spitze getrieben hat. Der Aufruf Jesu zur Feindesliebe sollte uns darum heute mehr sagen als zu früheren Zeiten – und uns besonders auch angesichts eines drohenden Krieges in der Ukraine wachrütteln. Wie würde unsere Welt aussehen, wenn wir zumindest in Ansätzen der Aufforderung Jesu folgen würden: zu lieben, wo Hass herrscht; zu segnen, wo ver- und geflucht wird; zu beten, wo Menschen sich gegenseitig mit Schimpftiraden bedenken?

„Meinen Hass bekommt ihr nicht!“ 

Die eigenen Feinde zu lieben, setzt die Bereitschaft zum Verzicht voraus: Verzicht nämlich auf Triumpf über die anderen; Verzicht darauf, Hassgefühlen in mir Raum zu geben; Verzicht auf die Versuchung, Gewalt – ob verbale oder physische – mit Gegengewalt zu begegnen. Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist Antoine Leiris, dessen Frau Hélène im November 2015 in Paris Opfer eines Terroranschlags wurde. In einem berührenden, aufrührenden Buch schreibt er: „Freitagabend habt ihr das Leben eines außerordentlichen Wesens geraubt, das der Liebe meines Lebens, der Mutter meines Sohnes, aber meinen Hass bekommt ihr nicht. Ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen!“ 

Praktische Folgen

Jesus ist besonders mit seiner Forderung der Feindesliebe allezeit ein Unruhestifter in unseren Gedanken und in unserem Herzen. Denn so ehrlich müssen wir sein: Wohl bei keinem anderen Gebot Jesu ist die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis so groß wie bei diesem. Feindesliebe jedoch als unpraktisch abzuschütteln, hat Erich Fried mit folgenden Zeilen eine Absage erteilt:

„Wer denkt
dass die Feindesliebe
unpraktisch ist
der bedenkt nicht
die praktischen
Folgen
der Folgen
des Feindeshasses.“

Gewalt und Hass, darauf macht Fried hier auch aufmerksam, bilden einen Kreislauf. Gewalt hat Folgen und diese Folgen bringen weitere Folgen hervor. Die Forderung der Feindesliebe rückt dagegen Haltungen zurecht und ermöglicht Alternativen dort, wo bislang Gewalt auf Gegengewalt, Beschimpfung auf Beschimpfung gestoßen ist. Klar ist aber auch: Eine solche Haltung ist mächtig und ohnmächtig zugleich. Wer seine Feinde liebt, wird leicht zum Opfer menschlicher Bosheit und macht sich mitunter zum Gespött – und doch hat sie eine bezwingende Kraft, die Herzen zu verwandeln und Mauern einzureißen. Das Gebot der Feindesliebe ist deshalb vor allem eines: ein Aufruf, die Liebe Gottes zum Menschen weiter zu denken, weiter zu leben.


Bischof Benno Elbs