Gedanken zum Sonntag von Bischof Benno Elbs.
„Onbruikbaar“ – unbrauchbar, ungültig: Es sind große, schwarze Lettern, die eine niederländische Behörde quer über eine Aufenthaltsgenehmigung gestempelt hat. Dieses Dokument sollte einer Ordensfrau eigentlich den Aufenthalt in einem Kloster in Holland ermöglichen, in das sie vor den Nazis geflüchtet war. Doch dieses eine Wort „unbrauchbar“ besiegelte ihr Schicksal. Die Ordensfrau wurde umgehend von den Nazis verhaftet und ins KZ Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie wenige Tage später gemeinsam mit ihrer leiblichen Schwester Rosa ermordet wurde. Das war am 9. August 1942, vor genau 80 Jahren. Die Rede ist von der Karmelitin Sr. Teresia Benedicta vom Kreuz, besser bekannt unter ihrem bürgerlichen Namen Edith Stein.
Jüdin, Atheistin, Ordensfrau
Dass am Ende ihres Lebens ihre Aufenthaltsgenehmigung und damit ihr ganze Existenz für „unbrauchbar“ gehalten wurde, spricht Bände. In einer Zeit, in der Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenrechte nichts zählen, ist auch für das Leben, Denken und Glauben einer großen jüdisch-christlichen Intellektuellen und Gottsucherin kein Platz. Dabei war ihr Weg in einen Orden keinesfalls vorgezeichnet. 1891 in Breslau als Tochter einer jüdischen Familie geboren, ging es ihr als Heranwachsender in puncto Religion nicht anders als vielen Menschen heute: An Gott zu glauben, fiel ihr nicht leicht. Sie ging deshalb auf Distanz zu ihrem jüdischen Glauben, ja bezeichnete sich bisweilen auch als Atheistin. Sie begann ein Philosophiestudium und fiel schon bald durch ihre hohe Begabung und ihren messerscharfen Intellekt auf. Eigentlich strebte Edith Stein eine akademische Karriere an, doch da sie eine Frau war, wurde ihr dieser Weg verwehrt. Sie blieb hartnäckig, doch es nützte nichts. Einen Lehrauftrag an der Universität erhielt sie nie.
Das Leben der eifrigen Leserin auf den Kopf stellen sollte jedoch nicht ein Werk der Philosophie, sondern die Lebensbeschreibung der spanischen Karmelitin Teresa von Ávila. Dieses Buch gab ihrem Leben eine unvorhergesehene Wendung. Edith Stein ließ sich taufen und trat schließlich 1933 in den Orden der Karmelitinnen ein.
Für eine menschlichere und gerechtere Welt
Papst Johannes Paul II. hat Edith Stein nicht nur heiliggesprochen, sondern auch zur Patronin Europas ernannt. Welche Bedeutung können ihr Leben und ihre Texte für das Europa von heute und von morgen haben? Nur einen Gedanken möchte ich aufgreifen. Ihre Doktorarbeit schrieb sie „Zum Problem der Einfühlung“. Einfühlung ist für Edith Stein mehr als die Fähigkeit, sich in einen Menschen hineinzudenken. Durch Einfühlung gerät der Mitmensch vielmehr in seiner ganzen Persönlichkeit in den Blick: sein Schmerz und seine Angst, seine Freude und Kränkungen, sein Glücklich- und Traurigsein. Es geht darum, wie sie schreibt, ein „Meister des Verstehens“ zu werden, Grenzen zu überwinden und den Menschen als Mitmenschen in seiner Würde und mit seinen Werten wahrzunehmen. Einfühlen wird so zum Mitfühlen, das heißt zu einem Akt der Liebe, der das eigene Herz öffnet für die Bedürfnisse der Schwachen und Leidenden.
Einfühlung scheint einen Nerv auch unserer Zeit zu treffen. Erst vor wenigen Jahren hat André Heller gesagt: „Die Weltmuttersprache ist das Mitgefühl.“ Nichts scheint mir angesichts unserer angespannten Weltlage wichtiger zu sein als das: Verständnis zeigen, einander helfen, das Verbindende suchen, Gemeinschaft stärken, Vertrauen gewinnen.
Durch Einfühlung und Mitgefühl können wir unserer Welt eine menschlichere und gerechtere Gestalt geben. Die Lehrerin der Einfühlung Edith Stein, vor 80 Jahren als unbrauchbar abgestempelt, hätte uns auch heute viel zu sagen.
Bischof Benno Elbs