Gedanken zum Sonntag von Bischof Benno Elbs über gesellschaftlichen Zusammenhalt, eine Zukunftsvision Jesu und ein fast einhundert Jahre altes Rechtsdokument, das in diesen Tagen allerorts gelobt wird.

Ein Wort ist derzeit in aller Munde. Seit dem Auftauchen des Ibiza-Videos und den daraus resultierenden politischen Folgen steht sie im Mittelpunkt des Interesses: die österreichische Bundesverfassung. Als Fundament des staatlichen Handelns gab sie in den vergangenen Tagen das Regiebuch vor, wie in politischen Ausnahmesituationen, wie wir sie jetzt erleben, vorzugehen ist. In diesen Tagen merken wir besonders, wie wichtig es ist, eine gute Bundesverfassung zu haben, die eine stabile Demokratie gewährleistet. Und wir dürfen auch dankbar sein für einen Bundespräsidenten, der ihre Vorgaben umsichtig, besonnen und mit großer Sorgfalt für das Wohl unseres Landes umsetzt.  

Zerschnittene Gesichter

Wir können aber auch fragen: In welcher Verfassung befindet sich unsere Gesellschaft? Welchen Grund- und Wertehaltungen folgt sie? Was sind die Wurzeln, die ihr Halt geben? Wie reagiert sie auf bestimmte Entwicklungen und Ereignisse – etwa auf jenen widerlichen neonazistischen Vorfall, der sich zu Beginn dieser Woche nahe des Wiener Heldenplatzes ereignet hat? Dort zeigt seit Anfang Mai die Ausstellung „Gegen das Vergessen“ auf offener Straße großflächige Porträtbilder von Überlebenden der NS-Verfolgung. Die Ausstellung will dem Leid ein Gesicht geben. Nun sind diese Gesichter zerstört. Erst wurden sie mit Hakenkreuzen beschmiert, dann mit Messern zerschnitten. Ein beschämender Akt, der mich und viele andere fassungslos und entsetzt zurücklässt. Denn dieser Angriff richtet sich nicht nur gegen die Opfer von damals, sondern auch gegen eine Gedenkkultur, die das Schicksal der Leidenden nicht vergessen möchte.

„Alle sollen eins sein“

Angesichts von Vorfällen wie diesem stellt sich die Frage: Ein Zukunftsbild für die Gesellschaft – wie könnte das aussehen? Wenn wir einen Blick in die biblischen Texte dieses Sonntags werfen, dann begegnet uns v.a. ein Wort: Einheit. „Alle sollen eins sein“, bittet Jesus in den sog. Abschiedsreden (Joh 17,21). In Zeiten, in denen einzelne Gruppen und Interessen gegeneinander ausgespielt werden, vertiefen sich viele Gräben: zwischen Regierenden und Bevölkerung, zwischen Einheimischen und Zugewanderten, zwischen der vermeintlichen Elite und den sog. kleinen Leuten – von der Polarisierung zwischen Links und Rechts ganz zu schweigen. Sogar der Demokratiebegriff selbst scheint gespalten zu sein: Jedenfalls mutet es sonderbar an, wenn man eigens betonen muss, dass man für eine liberale Demokratie eintritt – im Gegensatz zu einer illiberalen Demokratie. Doch das ist ein Widerspruch in sich. Ist illiberal nicht gleichbedeutend mit undemokratisch?

Im Sinne eines friedvollen Zusammenlebens in einer pluralen Gesellschaft hoffe ich, dass die Bitte Jesu, dass alle eins seien, nicht ungehört verhallt. In politisch heißen Zeiten ist es wichtig, zusammenzuhalten und das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen. Ich danke allen PolitikerInnen und allen Menschen in unserem Land, die diese Einheit suchen und Anders-Sein anerkennen. Dann bin ich guter Dinge, dass unsere Gesellschaft auch weiterhin in guter Verfassung bleibt.

Bischof Benno Elbs