Predigt von Bischof Benno Elbs in der Heiligen Nacht 2018 im Dom zu Feldkirch

Liebe Schwestern und Brüder!

Warum und was feiern wir an Weihnachten? Es gibt immer wieder Umfragen, die sich in diesen Tagen damit beschäftigen. Eine davon meinte kürzlich, dass nicht einmal jedes dritte Kind in Deutschland und Österreich weiß, was Weihnachten ist. Fragt man die Menschen, was sie sich von Weihnachten erwarten, hört man oft: Besinnlichkeit, Zeit mit der Familie, Harmonie, Ruhe. Jede und jeder weiß, dass dieses Wunschbild der Realität nicht entspricht. Und außerdem glaube ich, dass auch die Botschaft von Weihnachten keine so harmonische, besinnliche, kuschelige ist, wie wir das gerne hätten.

Vor kurzem bin ich auf eine jüdische Erzählung gestoßen, die Martin Buber überliefert. Es ist die Erzählung vom Rad und dem Pünktlein.

„Rabbi Jizchak Meir erging sich einmal an einem Spätsommerabend mit seinem Enkel im Hof des Lehrhauses. Es war Neumond, der erste Tag des Monats Elul. Der Zaddik fragte, ob man heute den Schofar geblasen habe, wie es geboten ist, einen Monat, ehe das Jahr sich erneut. Danach begann er zu reden: ‚Wenn einer Führer wird, müssen alle nötigen Dinge da sein, ein Lehrhaus und Zimmer und Tische und Stühle, und einer wird Verwalter, und einer wird Diener und so fort. Und dann kommt der böse Widersacher und reißt das innerste Pünktlein heraus, aber alles andere bleibt wie zuvor, und das Rad dreht sich weiter, nur das innerste Pünktlein fehlt.‘ Der Rabbi hob die Stimme: ‚Aber Gott helfe uns: Man darf’s nicht geschehen lassen!‘“

Die Frage, die sich hier stellt, ist: Was ist das innerste Pünktlein von Weihnachten? Dabei geht es nicht um das berühmte Tüpfelchen auf dem I, sondern um den innersten Kern, um den sich alles dreht. Das Rad der Vorweihnachtszeit dreht in der Regel ja problemlos: Weihnachtsmärkte, Geschäfte, Punsch und Christbaumschmücken. Das innerste Pünktlein, d.h. die Mitte von Weihnachten, scheint uns aber verloren gegangen zu sein. Was aber ist diese Mitte von Weihnachten? Drei Gedanken sind mir wichtig.

Das erste Pünktlein: Gott steht auf der Seite der Menschen. Gott steht auf Deiner Seite!

Viele Menschen haben heute das Gefühl, ausgegrenzt zu sein. Sie sind ratlos und haben das Gefühl, nicht dazugehören zu dürfen. Es sind Menschen, die von (Alters-)Armut bedroht oder die alleinerziehend sind. Obdachlose und Kranke gehören ebenso dazu wie jene, die von schweren Schicksalsschlägen heimgesucht wurden, die wie in einer Sekunde die Farbe des Lebens total verändern.

An Weihnachten feiern wir: Gott wird Mensch. Gott macht sich angesichts des Leids und der Not der Menschen nicht aus dem Staub, sondern steigt herab vom Himmel auf die Erde, wird Mensch und sagt: Ich stehe an Deiner Seite. Das Kind in der Krippe ist Zeichen dafür, dass das Leben vom Innersten her erfüllt wird mit Liebe, Aufmerksamkeit und Wertschätzung für die vielen Wege des Lebens, die Menschen zu gehen haben. Mich beeindruckt sehr, wenn Menschen derzeit an verschiedensten Orten bei Lichtermärschen und Demonstrationen sich ganz proaktiv und deutlich auf die Seite derer stellen, die keine Stimme haben. Der Einsatz für Menschenwürde hat in Vorarlberg viele Gesichter. Sie alle machen die Botschaft der Menschwerdung lebendig: Gott steht auf Deiner Seite!


Ein zweites Pünktlein: Weihnachten erzählt von der Zärtlichkeit Gottes

Zärtlichkeit,  die Güte Gottes und die Güte des Herzens sind es, die die Welt letztendlich im Innersten verändern. Papst Franziskus hat Weihnachten einmal als eine „Revolution der Zärtlichkeit“ bezeichnet. Zärtlichkeit ist eine Bewegung, die im Herzen beginnt und Augen, Ohren, Mund und Hände erreicht. Zärtlich handelt, wer den Mitmenschen sieht, ihn wahrnimmt und sich von seiner Situation anrühren lässt. Zärtlich ist, wer die oft stummen Schreie der Leidenden hört, wer ein Wort des Trostes und der Ermutigung spricht. Zärtlich ist, wer die geballte Faust öffnet und die Hand zur Versöhnung reicht.

Mich hat vor kurzem eine Adventfeier von Kindern mit Down-Syndrom sehr beeindruckt. Es war wunderbar zu sehen, mit welcher Zärtlichkeit die Eltern sich ihren Kindern zuwenden und mit welcher Spontanität und Herzlichkeit die Kinder diese Liebe weitergeben. Diese Gesten der Herzlichkeit braucht unsere Gesellschaft. Weihnachten sagt mir und Dir: Gott umarmt Dich. Er legt diese Freude in Dein Herz, damit auch Du eine Missionarin, ein Missionar der Zärtlichkeit wirst.


Das dritte Pünktlein: Weihnachten erinnert Dich daran, die Mitte nie zu verlieren

Es sind viele Logiken, die Menschen bestimmen: die Logik des Drucks, der Leistung, der medialen Wahrnehmung u.v.m. Doch die zentrale Frage ist: Bin ich im Zentrum meines Herzens verbunden mit dem großen Geheimnis, dass wir Gott nennen? Ist der Kompass meines Herzens dorthin ausgerichtet, wo ich sagen kann: Hier liege der Sinn und die Berufung meines Lebens meines Lebens?

Wenn wir auf das Leben dieses Kindes von Bethlehem schauen, dann hat er, Jesus, ganz entschieden diese Berufung gelebt: in seinen Begegnungen und Worten, in seiner Hinwendung zum Menschen. Weihnachten erinnert daran, die Mitte, d.h. den Sinn des Lebens nicht aus den Augen zu verlieren. Vielleicht ist es eine gute Anregung, einmal vor der Krippe zu stehen und ganz bewusst zu fragen: Herr, welche Mission hast Du für mein Leben?

Liebe Schwestern und Brüder!

Das Bedürfnis nach Harmonie, der Wunsch nach Zeit mit Familie und Verwandten gehören zu Weihnachten. Aber überfordern wir uns nicht! Das alles ist nicht die Mitte von Weihnachten. Das innerste Pünktlein am Rad der Heiligen Nacht hat noch eine ganz andere, kraftvolle Bedeutung: Gott steht auf Deiner Seite. Weihnachten ist eine Revolution der Zärtlichkeit, eine Revolution der Güte des Herzens, die durch jeden von uns – Dich und mich – ausgelöst werden kann. Und Weihnachten erinnert mich daran, meinen Blick auf die Mitte, auf den Sinn und auf die Berufung meines Lebens zu lenken.

Ich wünsche Euch ein frohes, gesegnetes Weihnachtsfest!