Gedanken von Bischof Benno Elbs zum Jahreswechsel 2022/2023

Liebe Schwestern und Brüder!

Vom Schriftsteller Manès Sperber stammt der Satz: „Die Zukunft ist eine Brücke, die nicht existiert, sondern sich Stück für Stück unter den Schritten dessen ausbreitet, der den Mut aufbringt, seinen Fuß über den Abgrund zu setzen.“ Wenn wir heute an der Schwelle zu einem neuen Jahr stehen, dann fühlt es sich womöglich so an, als ob wir vor einer Brücke stehen, die wir überqueren müssen. Was nehmen wir mit ins neue Jahr an Schönem, aber auch an Belastendem? Was lassen wir zurück? Setzen wir unsere Schritte mit Mut und Vertrauen, oder doch eher zaghaft, ängstlich, mit leisem Zittern vor dem, was da auf der anderen Seite – sprich im neuen Jahr – auf uns wartet?

Diese Brücke, so schreibt Sperber, gibt es jedoch noch nicht von vorn herein. Sie entsteht im Gehen; es braucht den Mut zum ersten Schritt. Wenn ich heute in meinen liturgischen Kalender schaue, sehe ich dort drei Dinge vermerkt: 1. Jänner, Hochfest der Gottesmutter Maria, Weltfriedenstag. Ich finde, dass diese drei Schlagworte uns helfen können, die ersten Schritte über diese Brücke zu wagen.

1. Jänner

Zunächst das Datum: 1. Jänner. Der Jänner hat seinen Namen vom lateinischen Gott Janus. Er wird gewöhnlich mit zwei Gesichtern dargestellt. Das eine Gesicht blickt nach vorn, das andere zurück. Er ist der Gott des Anfangs und des Endes, der Ein- und Ausgänge. Das Leben hat immer zwei Gesichter, es ist selten einförmig und nie eindeutig: Es gibt Anfang und Ende, Licht und Dunkelheit, Freude und Leid, Leben und Tod. Selten ist alles gut und selten alles schlecht.

Am heutigen Tag stehen wir an der Schwelle zum neuen Jahr und wir schauen wie Janus in zwei Richtungen: nach vor und zurück. Und da sieht jede und jeder von uns hoffentlich viel Schönes und Aufbauendes: Erlebnisse, die Dankbarkeit und Zufriedenheit wecken; Zärtlichkeit, die wir in Freundschaften und Beziehungen erlebt haben; Momente, in denen der Glaube uns Halt und neue Zuversicht geschenkt hat. Und ja, da gibt es auch vieles, das Sorge bereitet. Wir müssen die Litanei an Krisen, die sich im letzten Jahr aufgebaut haben, nicht wiederholen. Wohl aber müssen wir auch im neuen Jahr all die Menschen im Blick haben, für die das Leben zur Überlebensfrage geworden ist. Unsere Solidarität mit ihnen soll uns daher schon unseren ersten Schritten im neuen Jahr den Weg bahnen.

Hochfest der Gottesmutter

Das neue Jahr beginnt, zweitens, mit dem Blick auf Maria. Sie steht für den guten, neuen Anfang, der in der Geburt Jesu für die Welt angebrochen ist. Sie hat Jesus das Leben geschenkt, hat ihn begleitet und ist auch am Ende seines Lebens unter dem Kreuz gestanden.

Von Maria können wir vor allem eines lernen: Vertrauen. Sie hat nicht nur das nächste Jahr in Gottes Hand gelegt, sondern ihr ganzes Leben. Ohne Gottvertrauen können auch wir den Schritt auf die Brücke, von der Sperber spricht, nicht wagen. Bemerkenswert ist, dass in der Verkündigungsszene Maria als „Begnadete“ angeredet wird – und das, bevor sie überhaupt etwas sagen oder tun konnte. Sie musste weder etwas leisten noch etwas erreichen, um Gottes Zuwendung erfahren zu können. Vielmehr steht ihr Leben wie auch das unsere unter einem großen Vorzeichen der Liebe und der Gnade. Genau das hat ihr, so denke ich, auch in schwierigen Situationen Vertrauen und Zuversicht geschenkt.

Diese Einstellung kann auch uns am Beginn des neuen Jahres helfen. Auch wir haben noch nichts gesagt, getan oder geleistet. Wir stehen an einem Anfang und wissen nicht, wie es weitergeht. Aber wir dürfen darauf vertrauen und darauf hoffen, dass wir das neue Jahr unter dem Schutz und in der Gnade Gottes beginnen.

Weltfriedenstag

Dass seit den 60er-Jahren, von Papst Paul VI. eingeführt, der 1. Jänner zugleich auch als kirchlicher Weltfriedenstag begangen wird, ist in den letzten Jahren zunehmend in den Hintergrund gedrängt worden. Durch den Krieg in der Ukraine ist es nicht nur nötig geworden, täglich für den Frieden zu beten, sondern auch alles dazu zu unternehmen, um Frieden, Zusammenhalt und das Miteinander innerhalb unserer Gesellschaft zu stärken. Dass wir das neue Jahr mit der Bitte um Frieden beginnen, ist heuer wahrlich keine symbolische Geste. Denn wir spüren: Friede ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Weg – oft mühevoll und aufreibend. Wir brauchen heute nicht nur eine bewusste Entscheidung für den Frieden, sondern auch ein aktives Auftreten gegen jede Form von Hass, Ausgrenzung und Unwahrheit. Das gilt auf globaler Ebene, in Europa, in unserer Gesellschaft wie auch in unseren privaten Beziehungen. Dass dieses neue Jahr ein Jahr des wiedererlangten Friedens werde, das wünsche ich uns von Herzen.

Liebe Schwestern und Brüder!

1. Jänner – zurückblicken und zugleich den Blick solidarisch und mit Mut nach vorne wagen;
Hochfest der Gottesmutter – das neue Jahr im Vertrauen auf Gott beginnen;
Weltfriedenstag – für den Frieden beten und Frieden stiften.

Mit diesen drei Botschaften des heutigen Tages können wir die ersten Schritte auf jener Brücke wagen, die ins neue Jahr führt. Ich gebe zu: Ich blicke mit gemischten Gefühlen zurück und schaue auch mit gemischten Gefühlen nach vorn. Doch inmitten aller Sorgen, die jede und jeder von uns hat, haben wir Weihnachten gefeiert und gehört: Gott ist Mensch geworden. Er steht an unserer Seite. Er ist unter uns als unser Begleiter auf allen Lebenswegen – gestern und heute, im alten und im neuen Jahr.

Von Herzen wünsche ich Euch, dass Gott Eure Wege im Jahr 2023 mit Freude und Zuversicht segnen möge.

Bischof Benno Elbs