Was an den Tagen der Utopie geschieht, lässt sich weder planen noch vorhersagen. Es ist vielmehr ein schöpferisches Tun aller Beteiligten - von den Vortragenden über die Teilnehmenden bis hin zum Organisationsteam. Im Aufeinander-Hören und Miteinander-Teilen entwickelt sich Neues. Manchmal überraschend, oft beglückend.

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Der große Saal des Bildungshauses ist gefüllt bis zum letzten Platz. Für weitere hundert Zuhörende wird der Vortrag in den kleinen Saal übertragen, trotzdem gibt es noch eine Warteliste. Das Interesse für die Veranstaltungen bei den Tagen der Utopie ist enorm. 1400 Besucher/innen. Werbung war keine nötig.

Die Musik. Josef Kittinger, Leiter des Bildungshauses, begrüßt. Bereits zum siebten Mal kuratiert er gemeinsam mit Hans-Joachim Gögl dieses Festival, die beiden sind mittlerweile ein eingespieltes Team. Was zu diesem außergewöhnlichen Format seit Beginn mit dazugehört ist die Musik. Dieses Jahr wurde Wu Wei eingeladen. Der chinesische Musiker spielt  auf einem Instrument, das 3000 Jahre alt ist - die Sheng. „Es ist unglaublich, wie er uns mit seinem Musizieren die Kunst des Lebens, die Kunst der Aufmerksamkeit und der Inuition lehrt“, beschreibt Kittinger, was dabei geschieht. „Er geht in den Raum hinein und weiß noch nicht, was er spielen wird. Er lässt sich radikal auf den Ort und auf die Menschen ein und dann entsteht etwas noch nicht Gehörtes, nur hier Mögliches, etwas Unerhörtes und das ist - wie im Himmel... es ist alles da. Und die große Illusion, dass wir kämpfen müssen, damit die Welt gut wird und besser wird, wird entzaubert.“

Die Neurowissenschafterin. Nach Wu Wei tritt Tania Singer vors Publikum. Die Klänge der Sheng werden abgelöst von Wort und Power-Point-Folien. Die sympathisch-humorvolle Art der deutschen Neurowissenschafterin sorgt aber dafür, dass sich die angenehme Atmonsphäre weiterzieht. Es entsteht kein Bruch, nur die Ebene wird gewechselt. Die Expertin auf dem Gebiet der Empathieforschung stellt ihr Projekt vor. Motiviert ist es von den aktuellen globalen Problemen: Klimawandel, Hunger, Finanzkrise oder Burnout sind Symptome dafür, dass „wir es nicht geschafft haben in ein globales Bewusstsein hineinzuwachsen, in eine globale Verantwortung, die weiter geht als jene für meinen ‚kleinen Kosmos‘“, erläutert  sie zu Beginn. Sie sucht nach Lösungen - sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene.

Das Vorhaben. Das „ReSource-Projekt“ ist eine weltweit einzigartige wissenschaftliche Studie. Durchgeführt wird sie von der Abteilung Soziale Neurowissenschaft am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Tania Singer leitet die Abteilung. Rund hundert Mitarbeiter/innen sind involviert, vor sieben Jahren startete die Studie, die Auswertung der Ergebnisse wird noch ca. sechs Jahre dauern. „Forschung braucht Zeit“, erklärt die Wissenschafterin.

Interdisziplinär. Erforscht wird die Plastizität, die Veränderbarkeit. Und zwar im Hinblick auf das soziale Verhalten und jener Abläufe, die dieses im Gehirn widerspiegeln. Wie werden Menschen sozial kompetenter, stressfreier, geistig klarer und wie können sie andere besser verstehen? Das Trainingsprogramm, das dafür erstellt worden ist, basiert auf Säulen westlicher Psychologie und asiatischer Religionen. Expert/innen aus unterschiedlichen Bereichen arbeiten hier zusammen.

Das Programm. Drei große Bereiche umfasst das Programm, jeder erstreckt sich über einen Übungszeitraum von drei Monaten: Beim Achtsamkeitsmodul geht es um die Präsenz, um die Stabilisierung des Geistes. Sie wird mit Körper- und Atemübungen eingeübt. Im Rahmen des „Affekt-Moduls“ geht es darum, Dankbarkeit und Mitgefühl zu trainieren, sowie einen wertfreien Umgang mit Gefühlen zu lernen. Das dritte Modul lehrt den Perspektivenwechsel, der es ermöglicht, mich selbst und andere besser zu verstehen und zum „Selbst“ zu gelangen, das hinter all den Rollen steckt, die Menschen im Alltag einnehmen. Beim zweiten und dritten Modul wird mit Dyaden, speziellen Zweiergesprächen, gearbeitet.

Die Teilnehmenden. Rund 300 Menschen stellten sich für die Studie zur Verfügung. Sie unterschieden sich in Alter, Beruf und Religionszugehörigkeit. Was allen gemeinsam war: psychische Stabilität und keine Meditations-Erfahrung. Zu Beginn jedes Moduls stand ein dreitägiges Schweige-Retreat, an dem auch ins Programm eingeführt wurde. Die Teilnehmer/innen absolvierten dann täglich ein 30-minütiges Übungsprogramm, ein Mal pro Woche trafen sie sich mit einem Lehrer. Anhand unterschiedlicher Maße wurden die Auswirkungen des Trainings aufgezeichnet, es ging um die Frage: Welche Art der Meditation macht was mit wem?

Empathie und Mitgefühl. Auch wenn die Ergebnisse noch lange nicht vollständig ausgewertet sind, gibt es schon aufschlussreiche Erkenntisse. Die Unterscheidung von Empathie und Mitgefühl zum Beispiel. Erstere wird als „Mitleiden“ verstanden und zeigt sich zum Beispiel darin, dass jemand angesichts eines traurigen Menschen selbst Trauer verspürt. Mitgefühl könnte übersetzt werden mit „fürsorglicher Güte“ und verglichen werden mit der Liebe einer Mutter, die sich um das aufgeschlagenen Knie ihres Kindes mit Trösten und Verarzten kümmert, ohne dabei jedoch selbst den Schmerz zu verspüren. Empathie und Mitgefühl spielen sich in unterschiedlichen Gehirn-Netzwerken ab, beide können trainiert werden. Das kann für Berufsgruppen, die mit viel Leid konfrontiert sind, zur Überlebenschance werden.

Die Ökonomie. Tania Singer will die Erkenntnisse des "ReSource-Projektes" auch in die Ökonomie, auf die Makroebene, bringen. Dort hängen die Verantwortlichen noch vielfach an einem Menschenbild, das an der Wirklichkeit vorbeigeht, am „homo oeconomicus“. Dieses stellt den Menschen als ein Wesen dar, das rein nutzenorientiert ist, nur auf den eigenen Vorteil bedacht und rational handelnd. An diesem Menschenbild orientiert sich nicht nur die Wirtschaft, sondern, so Singer, auch Politik und Schule.

Der Wandel. Tatsächlich wurde die Wissenschafterin schon zum Weltwirtschaftsforum nach Davos eingeladen. „Das Interesse nimmt zu“, stellt Singer fest. „Die Wirtschaftsverantwortlichen sind auch aus persönlichen Gründen interessiert. Vielleicht spüren sie eine innere Leere. Die Spitze ist einsam.“ Auch Hans-Joachim Gögl stellt hier einen Wandel fest: „Wir können jetzt in einem Industrieunternehmen oder unter Politikern - also in Milieus und Szenen, die eigentlich als sehr pragmatisch und taff gegolten haben - Themen wie Kooperation, Mitgefühl, Meditation, anderer Stil der Aufmerksamkeit und des Aufeinander-Hörens thematisieren. Das kommt jetzt aus den Universitäten, aus den Forschungslabors und kriegt dadurch eine besondere Autorität. Da ist eine Tür offen, die vielleicht noch nicht riesig ist, aber da sickert langsam ein anderer Stil durch.“

Die Zwischenräume. Die Ausführungen von Tania Singer stoßen auf große Resonanz, die Auseinandersetzung geht in anderen Räumen und Formen weiter.  „Die ‚Zwischenräume‘ werden immer wichtiger: die Dialoge, die Workshops, die Begegnungen beim Essen, in der Pause, in der Natur draußen“, erläutert Kittinger die Entwicklung des Festivals. Zwei solcher „Zwischenräume“, in denen das Gehörte vertieft wird, stehen am nächsten Vormittag am Programm: ein Dialog mit Tania Singer sowie eine systemische Aufstellung mit dem Theologen und Psychologen Siegfried Essen.

Die Aufstellung. Beim Frühstückstisch entschließen sich die beiden zu einer spontanen Programmänderung und laden alle in die Kapelle zu einer gemeinsamen Anfangs-Meditation ein. Sie lässt das Einüben des Mitgefühls erfahrbar werden, ganz konkret, am eigenen Leib, im eigenen Herzen.
Ebenso konkret wird dann die Aufstellungsarbeit. Dem Leiter gelingt es, die Frage, die dem Thema zu Grunde liegt, auf sehr einfache Art vor Augen zu führen. Die innere Struktur wird nach außen gebracht: Quelle, Alltag und Ich. Wie stehen sie zueinander? In welcher Verbindung? In welcher Distanz? Die Aufstellung bringt auch zutage, dass mit der Quelle manchmal belastende Erfahrungen verbunden werden, die einen Zugang zu ihr verunmöglichen.
Am Ende des Vormittages trifft man sich dann wieder in der Kapelle zu einer meditativen Übung des Perspektivenwechsels.

Die Co-Kreation. „Die Tage der Utopie sind wirklich eine große Co-Kreation“, sinniert Kittinger, „es wird nicht von einem Workshop-Leiter, von einem Referenten gemacht, sondern wir lauschen auch darauf, was sich hier jetzt zeigen will, welche Überraschungen, Erkenntnisse und Einsichten.“ Und Gögl ergänzt: „Es ist irrsinnig schön zu sehen, wie Menschen andocken an diesen Impuls, ihn aufnehmen, übernehmen, selber etwas mitbringen - ganz viele haben eigene Projekte, sind schon unternehmerisch oder sozial-unternehmerisch engagiert. Das Feld ist unendlich viel größer als wir es eigentlich gedacht haben. Und das ist eine total lässige Erfahrung für uns als Kuratoren, dass es unser eigenen Vermögen vollkommen übersteigt. Die Leute machen damit, was sie wollen und nicht was wir planen - es ist viel schöner und viel größer als man es selber herstellen könnte.“

Zum Nachlesen und -hören


Im Radio

Ö1: „Im Gespräch“ mit Renata Schmidtkunz
_Niels Pfläging, 30. April, 21 Uhr.
_Andreas Weber, 15. Mai, 16 Uhr.
_Tania Singer, 11. Juni, 21 Uhr (Wiederholung am 12. Juni, 16 Uhr)
... und jeweils 7 Tage lang zum Nachhören auf oe1.ORF.at

Radio-Vorarlberg wird im Laufe des Jahres die Themen in der Reihe „Focus“ aufgreifen.

online
Alle Vorträge gibt es zum Nachhören unter www.tagederuotpie.org
Mitgefühl. In Alltag und Forschung. Das e-book von Tania Singer und Matthias Bolz kann kostenlos heruntergeladen werden unter www.compassion-training.org

Buch zum Festival
Tage der Utopie. Entwürfe für eine gute Zukunft. Herausgegeben von Hans-Joachim Gögl und Josef Kittinger. Bucher Verlag 2015.

Musik
Die CD mit der Musik von Wu Wei, die er in der Kapelle in Arbogast aufgenommen hat, wird im Sommer erscheinen.