Bei der Jahrestagung der Vorarlberger Bibliotheken am 16. März 2013 zeigte der Filmjournalist Thomas Binotto in seinem Vortrag "Vom Buchstaben zum Bildersturm" auf, wie aus Text Kino wird. Hannes Mäser stand er anschließend Rede und Antwort.

Ihre Internetadresse hat die eher ungewöhnliche Bezeichnung „filmleser.ch“. Wieso Filmleser?

Ich habe mir selbst irgendwann den Titel „Filmleser“ gegeben. Die Erklärung ist eigentlich ganz einfach. Wenn man vom Bücherlesen spricht, dann wissen sofort alle, dass man Bücher ja nicht nur einmal durchlesen und genießen kann, sondern man kann ja Bücher auch genauer lesen, man kann eine Passage lesen, man kann Hintergründe entdecken, man kann auch entdecken wie und mit welchen Mitteln geschrieben wird. Das macht man in der Schule auch, das nennt man dann Literaturunterricht. Und man sagt dann, man liest zwischen den Zeilen. Und ich bin überzeugt, dass man mit den Filmen genau das Gleiche machen kann. Man kann Filme genauer anschauen, kann Szenen auseinander nehmen, kann die Mittel entdecken, mit denen gearbeitet wird und dann beginnt man Filme zu lesen, oder ich sage dann jeweils, man sieht zwischen den Bildern. Deswegen nenne ich mich „Filmleser“. Das hat häufig den Effekt, dass die Leute sich fragen, was ist das und genauer hinschauen.

In der Medienpädagogik gibt es den Begriff „viewing literacy“. Es geht darum den Umgang mit Medien zu lernen und sie zu entschlüsseln.

Ja klar. Das, was ich mache, ist ein medien- oder filmpädagogisches Angebot. Irgendwie sind auch Filme Texte. Aber ich spreche lieber von Stoffen, von Geschichten, um die es geht und die man mit verschiedenen Mitteln erzählen kann, also mit Schreiben, mit Filmen, mit Musik, mit Gemälden, im Theater. Wenn der Stoff interessant genug ist, dann ist man auch daran interessiert, diesen Stoff musikalisch zu erleben, im Film zu erleben, im Buch zu erleben. Dann gibt es auch nicht mehr ein Gegeneinander, sondern dann gibt es einfach die Beschäftigung mit dem Stoff. Und wie der jetzt in der Kunst des Films umgesetzt werden kann, das ist dann mein Thema. Zu vermitteln, mit welchen Mitteln der Film arbeitet und wie man dahintersehen kann.

Eigentlich liegt fast allen Filmen ein Buch zugrunde: das Drehbuch

Jeder Geschichte liegt irgendwie die Sprache zugrunde. Auch wenn wir in einer Kultur leben würden, in der wir das geschriebene Wort nicht hätten, dann hätten wir das gesprochene Wort, und das ist auch ein Wort, eine Sprache. Und so gesehen kommt auch der Film ohne diese Sprache gar nicht aus. Auch wenn manchmal vielleicht als erste Idee ein Bild da ist, aus der sich dann eine Geschichte entwickelt. Das Interessante am Drehbuch ist, dass bei der Umsetzung eines Films sehr lange immer wieder neuer Text entsteht und nicht Bild.
Ein Drehbuch hat gewissermaßen eine Art Scharnierfunktion, in dem es auf der einen Seite reiner Text ist und andererseits bereits ein „Bild im Kopf“ beabsichtigt. Gerade das macht das Drehbuch so spannend. Ich glaube schon, dass man letztlich für den Film die Sprache braucht. Wobei natürlich auch vorstellbar ist, dass man einen Film auch auf Basis eines reinen Storyboards drehen kann. Nur, wenn es im Film Dialoge gibt, ist es natürlich sinnvoll diese aufzuschreiben.


Lässt sich Literatur überhaupt verfilmen? Manche meinen Literaturverfilmungen seien ein Unding? Was macht für Sie eine gute Literaturverfilmung aus?

Ich muss zurückkommen auf die Sache mit dem Stoff. Entscheidend ist die Frage, wird man dem Stoff gerecht und nicht wird man dem Buch gerecht. Ein konkretes Beispiel: Bei „Herr der Ringe“ finde ich die künstlerische Umsetzung des Stoffes im Film gelungener als im Buch. Die Leistung von Tolkien bleibt natürlich insofern bestehen, als er der Erfinder dieses Stoffes ist. Wenn man das Buch liest und es rein unter literarischen Gesichtspunkten liest, dann muss man sagen, dass der Film in der filmischen Umsetzung des Stoffes gelungener und auch künstlerisch hochkarätiger ist als das Buch. Wichtig scheint mir, dass man immer im Auge hat, ein Buch ist kein Film und ein Film ist kein Buch. Das gilt eben für beide Seiten. Es gibt auch Filme, wo nachher erst Bücher entstehen, die dann meistens auch nicht als besonders gelungen gelten. Der Fehler besteht eigentlich darin, dass man die Meinung hat die gute Literaturverfilmung ist praktisch das Buch in Bildern, und das funktioniert nicht. Es sind zwei unterschiedliche Kunstformen, eben in der Umsetzung eines Stoffes. Mir persönlich fällt auf, die gelungensten Literaturverfilmungen sind meisten wirklich jene, die etwas wagen. Die, die sich sklavisch an die Vorlage halten, um nichts falsch zu machen, sind meistens die langweiligsten Literaturverfilmungen. Da sagt man dann, ja das ist ganz schön das Buch abgefilmt. Aber eigentlich wird eine Chance verpasst. Und ich finde immer, am spannendsten sind jene Literaturverfilmungen, die wirklich etwas wagen. Die den Stoff wirklich bearbeiten. Bei „Herr der Ringe“ ist das zum Beispiel ganz stark der Fall. Die haben massiv in die Vorlage eingegriffen. Den Stoff wie neu durchgeknetet. Und daraus etwas Neues, spannendes geschaffen. Man kann damit natürlich auch scheitern, wie mit jedem Kunstwerk. Aber ich würde grundsätzlich Filme und Bücher gar nicht gegeneinander ausspielen.


Von manchen wird die Meinung vertreten, „Bücher regen die Phantasie mehr an als Filme“ und der Film würde Vorstellungskraft und Phantasie einschränken.

In der Entwicklung von Kindern glaube ich tatsächlich, dass die Erzählung - nicht einmal unbedingt das Buch –, dass das Erzählen ohne schon Bilder dazu zu liefern, eine wichtige Funktion hat, sich eigene Bilder auszudenken und zwar Bilder, die man selber erträgt. Ich glaube, das hat tatsächlich etwas für sich. Diesen Schritt würde ich nicht überspringen. Ich glaube er ist wichtig. Aber ab einem Punkt in der Entwicklung funktioniert es dann mit dieser Hierarchie nicht mehr so. Einerseits fällt auf, verschiedene Menschen können zusammen ins Kino gehen und kommen raus, diskutieren über den Film und man hat den Eindruck, sie haben nicht den gleichen Film gesehen, obwohl man weiß, sie waren alle im selben Film. Geschichten wechseln immer wieder den Besitzer oder die Besitzerin. Wenn ein Autor, ein Dichter ein Buch schreibt, in dem Moment, wo dann eine Leserin / ein Leser dieses Buch liest, dann gibt der Autor gewissermaßen auch die Deutungshoheit über die Geschichte auf, weil der Leser jetzt frei ist, die Geschichte umzuinterpretieren, wie er sie interpretieren und verstehen will. Der Autor muss sie gewissermaßen freigeben. Wenn der Leser dann ins Kino geht und sich einen Film anschaut, dann muss er bereit sein, die Hoheit über den Stoff aufzugeben und sie an den Filmemacher weiterzureichen. Wenn er im Kino sitzt und diesen Film sieht und rausgeht, dann muss der Filmemacher eigentlich den Stoff wieder abgeben an den Zuschauer, der sich auch wieder etwa ausdenkt dabei. Das finde ich das Interessante und das Spannende, dass der Stoff von anderen Menschen immer wieder neu angeeignet wird, was mitunter total unterschiedlich sein kann. Insgesamt ist das ein sehr phantasievoller Prozess. Ich glaube nicht, dass es da einen toten Punkt gibt, in dem Sinn, beim Buch hattest du deine Phantasie und wenn du ins Kino gehst ist Schluss damit. So ist das Kino nicht und so wirkt es nicht. Die Leute kommen heraus aus dem Kino und diskutieren, was hätten die Personen anders machen müssen, wie könnte es jetzt weitergehen. Sie diskutieren über die Filmfiguren, als ob es lebendige Menschen wären.

Immer wieder wird beklagt, dass Kinder und Jugendliche heute weniger lesen.

Man kann wahrscheinlich nicht abstreiten, dass heute weniger gelesen wird. Wobei meine Beobachtung eher ist, dass es nach wie vor sogenannte „Hardcore-Leser“ gibt, die vielleicht mehr lesen als Kinder und Jugendliche früher gelesen haben. Das breite Mittelfeld ist wahrscheinlich gegenüber früher weniger geworden. Ich habe ein bisschen Mühe mit dem Kulturpessimismus, der da manchmal mitschwingt, wenn von einem Verfall der Kultur die Rede ist. Es ist ein Wandel der Kultur.
Es ist eine interessante Beobachtung die ich bei meinen 40-50 „Filmlesungen“ pro Jahr bei den 10-20jährigen in Schulklassen mache. Häufig kommen nachher Lehrerinnen und Lehrer zu mir und melden mir zwei Dinge zurück: erstens dass die Schülerinnen und Schüler beim Lesen von Bildern besser geschult sind als ihre Lehrerinnen und Lehrer. Das heißt, in dieser Bilderwelt, in der sich die Kinder bewegen, geht nicht einfach etwas verloren, sie gewinnen auch etwas, sie können mit Bildern umgehen, also sie können Bilder besser dekodieren. Das ist das eine und das andre, es kommen oft Lehrerinnen und Lehrer zu mir, die sagen, ich wusste gar nicht, was diese Schülerin oder dieser Schüler, die im Unterricht entweder ganz still oder unaufmerksam sind, alles wissen. Plötzlich sehen die Lehrerinnen und Lehrer ihre Schülerinnen und Schüler ganz neu. Das deutet auch darauf hin, finde ich, dass in unserer von der Schriftkultur geprägten klassischen Schulbildung andere Fähigkeiten untergehen. Es ist nach wie vor so, dass, wenn ein Schüler leseschwach ist, dann hat er praktisch im ganzen Schulsystem keine Chance. Es kommt gar nie zum Tragen, dass er vielleicht auf visueller Ebene ganz viele Dinge lernen und sich aneignen könnte. Es wird gar nicht versucht auch visuell Dinge zu vermitteln. Also in Schulbüchern ist in der Regel das Visuelle nur dazu da entweder den Text zu duplizieren oder zu illustrieren oder einfach dafür zu sorgen, dass die Seiten nicht zu textlastig aussehen. Aber sich wirklich bewusst zu machen, über das Visuelle Wissen und Können zu vermitteln, das kommt vermutlich selten vor. Man müsste sich eigentlich damit beschäftigen das nicht als Bedrohung zu sehen, sondern als Ergänzung. Interessanter Weise nehmen wir das Visuelle ja viel schneller auf als Text. Bilder nehmen wir wahnsinnig rasch auf und die gehen uns viel tiefer. Das müssten wir eigentlich nutzen.

Wird das klassische Buch auf Papier künftig verschwinden?

Ich bin mindestens so sehr Büchernarr, wie ich Filmnarr bin. Ich finde ein Buch allein vom In-der-Hand-Halten etwas Tolles. Das ist etwas, was mich beim e-Book noch zurückhaltend sein lässt. Ich habe einfach gerne ein Buch in der Hand, das unterschiedliches Gewicht und eine unterschiedliche Größe hat.
Ich glaube nicht, dass das Buch verschwindet. Ich komme da wieder darauf zurück: die entscheidende Sache sind Geschichten. Die Menschen wollen Geschichten hören und sie wollen übrigens auch in Sachbüchern Geschichten hören. Auch wenn ich Sachbücher schreibe, versuche ich Geschichten zu erzählen. Es ist eigentlich sekundär mit welchem Medium das passiert. Es werden weiterhin sicher auch Bücher sein, mit denen Geschichten erzählt werden. Eben weil Bücher nicht Film und auch nicht Computergames oder Hörbücher sind. Bücher haben als Bücher eine Zukunft. Was genau der Träger des Buches ist, digital als e-Book oder eben auf Papier, das scheint mir sekundär. Das ist etwa so sekundär wie, ob der nun als Filmrolle oder vom digitalen Datenträger vorgeführt wird. Entscheidend ist das projizierte Bild, die Geschichte.


Zur Person

Binotto über Binotto

Thomas Binotto, geboren 1966, ist Journalist und Buchautor. Seit er zuhören kann, ist er geschichtensüchtig. Und weil er als Sechsjähriger im Kino »The Kid« von Charlie Chaplin gesehen hat, ist er auch noch kinosüchtig geworden.
Er hat sich redlich bemüht, diese Leidenschaften in den Griff zu bekommen und arbeitet deshalb als Filmkritiker. Nun kann er auch vormittags ins Kino gehen und behaupten, das sei Arbeit. Er hat vier Kinder im kinofähigen Alter und lebt in Schaffhausen, Schweiz.

 

Unterrichtsmaterialien

zu Literaturverfilmungen finden sich auf seiner Website filmleser.ch (PDF als Download)