Was lesen und warum? Die Literaturexpertinnen Senta Wagner und Jana Volkmann schlugen Vorarlbergs Bibliothekarinnen eine Schneise durch den Dschungel der Neuerscheinungen.

Elly ist weg. Und Summer. Und Carter und Chantal und Robert auch. Wer dieser Tage eine Buchhandlung besucht, findet: Vermisste. „Lost & Found“ heißt nicht umsonst das vierte Kapitel in Senta Wagners und Jana Volkmanns Crashkurs zu den Neuerscheinungen des Herbstes – es ist das längste.

40 Vorschläge für Vorarlbergs Bibliotheken

Zum achten Mal lud die Bibliothekenstelle der Diözese diese Woche zu dieser „Vorlesung“ ein. Binnen sechs Stunden erhielten Bibliothekarinnen (ja, es waren ausschließlich Frauen) einen Überblick über all das, was man von den Neuheiten kennen und vielleicht anschaffen sollte – von zweien, die es wissen müssen: Die gebürtige Stuttgarterin Senta Wagner ist Lektorin und Jurorin der ORF-Bestenliste, ihre Kollegin Jana Volkmann schreibt selbst Prosa und bespricht als Journalistin die Veröffentlichungen anderer. 40 Bücher haben die beiden ausgesucht – ein wenig Geschichte, ein paar Gedichte, ein bisschen Georgien (= heuer Gastland der Frankfurter Buchmesse), viel Liebe, Spannung – und: diese Vermissten.

Da ist die Elly, die elfjährig auf dem Weg zum Judotraining verschwindet und erst nach Jahren der Ungewissheit wieder auftaucht. Oder ist sie es doch gar nicht (Maike Wetzel)? Von Summer verliert sich nach einem Picknick mit ihrem Bruder jede Spur und Benjamin erkennt erst als erwachsener Mann, dass viel mehr dahintersteckt als er je ahnte (Monica Sabolo). Carter ist ohnehin ein einziges Rätsel – und ihr Auf- und wieder Abtauchen ist für die namenlose Protagonistin in Ally Kleins Roman vielleicht darum so entscheidend. Und der Fall von Chantal ist vielleicht besonders interessant: Sie ist einer der Knotenpunkte in Philipp Weiss' fünfbändigem Romandebüt „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ – in dem es sonst nicht viele Gewissheiten gibt. Mit welchem der fünf Bücher im Schober zum Beispiel anfangen? Jana Volkmann zuckt mit den Schultern. „Der Autor macht keinerlei Vorgaben“, erklärt sie. Aber: Vielleicht nicht ausgerechnet mit Chantal – ihre Notizbücher („Cahiers“) gehören zu den eher anspruchsvolleren Passagen in Weiss' nicht eben anspruchslosem Komplex. Seine „in Bruchstücke zerfallene Welt“ spielt in Japan, das von der Erdbeben, Tsunsami- und Reaktorkatastrophe 2011 gezeichnet ist. Die fünf verschieden dicken Teile des Buchs stehen für fünf verschiedene Protagonisten, die durch ihre Biografien miteinander verbunden sind – wie etwa Chantal, die die Urenkelin der Klimaforscherin Paulette ist und zugleich Ex-Freundin des Künstlers Jona. „Es sind Menschen auf der Suche“, meint Volkmann. Und das erlebe auch der/die Leser/in mit den fünf verschiedenen Textgattungen – vom Stream-of-Consciousness-ähnlichen Gedankenmäandern bis hin zur Graphic Novel im Manga-Stil.

Wissen, warum.

Abwechselnd erzählen Wagner und Volkmann, was sie an einem Buch reizt und warum. Ist es die feine Sprache und der eigenwillige Satz von Özlem Özgül Dündars Lyrik („Gedanken zerren“ – toll ist das Titelgedicht, von der Autorin selbst gelesen; anhören!), ist es die genaue Recherche für Walter Hönigsberges Wein-Krimi „Clos Gethseman“? Ist es David Fuchs‘ präzises Portrait eines Palliativpatienten („Bevor wir verschwinden“) oder Erich Hackls bewegende „Heldengeschichte“ über den Wiener Kunsthandwerker Reinhold Duschka, der zur Zeit des Nationalsozialismus die Jüdin Regina Steinig und ihre Tochter Lucia in seiner Werkstatt versteckt („Am Seil“)?

In den Pausen in diesem Marathon beratschlagen die Bibliothekarinnen über mögliche Neuanschaffungen oder machen am Stand der Buchhandlung Tyrolia gleich Nägel mit Köpfen. Ein Name dürfte dabei häufiger gefallen sein: Es ist der des gebürtigen Harders Michael Köhlmeier. Denn auch er schreibt von so einem Vermissten: Robert Lenobel macht sich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus seiner Wiener Wohnung davon – und taucht erst viel später in den Wirren seiner jüdischen Familiengeschichte wieder auf. Es sei auch Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems, zu verdanken, dass Robert, dieser regelmäßige Gast in Köhlmeiers Prosa, in „Bruder und Schwester Lenobel“ zum Hauptdarsteller wurde, erzählt Wagner und grinst: Loewy habe sich ein bisschen in dessen Schwester Jetti verguckt...

Ach ja, und dann ist da noch der Fall Verena Roßbacher und ihr „Ich war Diener im Hause Hobbs“: Die gebürtige Bludenzerin erzählt von Christian, der als Butler für eine Zürcher Anwaltsfamilie arbeitet. In deren Gartenpavillon liegt irgendwann ein Toter und Christian versucht zu verstehen, wie es dazu hat kommen können. Eine Spur führt nach Feldkirch...