Kleine Leser ganz groß – Lesefrühförderung in der Familie

 

„Wer nicht liest, kennt die Welt nicht.“ – Dieses Zitat von Arno Schmidt macht deutlich, dass Lesen eine wichtige Schlüsselqualifikation ist, die den Zugang zu unserer schriftdominierten Mediengesellschaft ermöglicht. Lesen öffnet aber nicht nur unterschiedliche soziale Bereiche, sondern bildet auch die Basis für die Nutzung anderer, neuer Medien. Lesen ist also zweifellos förderungswürdig.

Spätestens seit der Veröffentlichung der PISA-Studie 2000 sind die Begriffe „Lesekompetenz“ und „Leseförderung“ in aller Munde. Bereits mehrfach wurde angesichts der drohenden Medienkonkurrenz das Ende des Buchzeitalters und der Niedergang der Lesekultur ausgerufen. Solche kulturpessimistischen Prognosen sind allerdings nicht haltbar. Die aktuellsten Ergebnisse der Buchmarkt- und Leseforschung zeigen, dass es um das Lesen im 21. Jahrhundert gar nicht so schlecht bestellt ist. Trotz Neuer Medien sind keine gravierenden Einbrüche im Leseverhalten nachweisbar. Die für die Buchlektüre aufgewendete Freizeit ist erstaunlich stabil geblieben und die Buchproduktion kontinuierlich angestiegen. In keiner historischen Epoche war die Chance für Kinder, zu Lesern zu werden, so groß wie heute.

Dennoch bleibt eine möglichst früh einsetzende und ganzheitliche Leseförderung unverzichtbar. Der Weg, den Kinder im Laufe der Lesesozialisation zurücklegen, ist lang und teils steinig, eine entsprechende Begleitung und Unterstützung durch die Familie unerlässlich.

Leseförderung

 

Lesekompetenz: Versuch einer Begriffsbestimmung

Bevor man sich mit konkreten Maßnahmen zur Leseförderung befasst, ist zu klären, was überhaupt gefördert werden soll, was unter „Lesen“ bzw. „Lesekompetenz“ zu verstehen ist.

Der Lesebegriff ist nur schwer fassbar und in der einschlägigen Fachliteratur zur Leseforschung finden sich mehrere – teils konkurrierende – Definitionen. Außer Frage steht, dass Lesen wesentlich mehr ist, als das bloße Entschlüsseln von Schriftzeichen sowie das passive Konsumieren von vorgegebenen Textinhalten. Vielmehr muss der Leser im Lektüreakt selbst aktiv werden, um eine Textbedeutung zu konstruieren.

Recht lange dominierte ein pragmatischer Lesebegriff, der unter Lesekompetenz die Fertigkeiten verstand, bei der Lektüre Informationen zu ermitteln, den Text zu interpretieren und das Gelesene schließlich kritisch zu bewerten. Diese Definition, die übrigens auch der PISA-Studie 2000 zugrunde liegt, verkürzt das Lesen auf den rein kognitions-psychologischen Aspekt und wurde daher auch vielfach kritisiert.

Allmählich konnte sich ein weiter gefasster Lesebegriff durchsetzen, der alle Aspekte des Lesens berücksichtigt. Lesekompetenz beinhaltet demnach nicht nur das Entziffern von Texten, sondern eben auch die grundlegende Bereitschaft zu lesen (Motivation), das Erleben von Gefühlen während der Lektüre (Emotion) sowie die kritische Auseinandersetzung mit den Textinhalten (Reflexion). Eine ganzheitliche Leseförderung hat allen Aspekten der Lesekompetenz gleichermaßen Rechnung zu tragen.

Für die Lesefrühförderung in der Familie spielen der motivationale und emotionale Aspekt eine ganz zentrale Rolle, während die eigentliche Alphabetisierung Aufgabe der Pflichtschule ist.

Auch die Frage nach der Lesefunktion ist im Hinblick auf Lesefördermaßnahmen relevant. Lesen kann unterschiedliche Funktionen haben, die vom reinen Informationslesen bis hin zur Unterhaltungslektüre reichen. Oberstes Ziel einer erfolgreichen Leseförderung muss es daher sein, den kindlichen Leser in die Lage zu versetzen, alle Lesefunktionen anwenden zu können.

 

Lesesozialisation: Wie werden Kinder eigentlich zu Lesern?

Bis in die 1970er-Jahre ging man davon aus, dass die Lese-Entwicklung, die jedes Kind durchläuft, ein natürlicher innerer Reifungsprozess sei, der sich in verschiedenen Lesealter-Stufen (z. B. Märchenalter) vollzieht. Dementsprechend bestand die Aufgabe einer gezielten Lese-Erziehung darin, die Entfaltung dieser „Naturbegabung“ durch die Auswahl altersgemäßer Lesestoffe möglichst positiv zu beeinflussen. Solche universalen Lesealter-Theorien können aber sozial und individuell bedingte Abweichungen vom Entwicklungsverlauf nicht erklären.

Mittlerweile hat sich das Konzept der so genannten Lesesozialisation bewährt. Die Grundannahme ist, dass sich der Erwerb der Lesefähigkeit immer in einem gesellschaftlichen Rahmen vollzieht. Ob und wie Kinder zu Lesern werden, hängt maßgeblich von sozialen Einflüssen und Bedingungen ab. Familie, Schule und Peergroups haben dabei eine wichtige Vermittlerfunktion und sorgen dafür, dass das Kind in die Schriftkultur hineinwächst und so ein handlungsfähiges Mitglied der Mediengesellschaft wird.

Die Lesesozialisation kann grob in drei Etappen unterteilt werden: Zunächst meistert das Kind spielerisch den Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, meist im Rahmen von Vorlesesituationen (Frühe Kindheit). In einem zweiten Schritt löst es sich aus der Abhängigkeit von erwachsenen Vermittlern und eignet sich schrittweise das Schriftsystem an (Kindheit). Abschließend bildet sich eine individuelle Lektürepraxis heraus (Jugend).

 

Zum Lesen verführen: Lesefrühförderung in der Familie

Das Lesen galt lange Zeit als eine mit dem Schuleintritt beginnende Lernaufgabe. Heute weiß man jedoch, dass mit der Leseförderung gar nicht früh genug begonnen werden kann. Denn wer in der frühen Kindheit keine Phase intensiver Leselust durchlebt hat, entwickelt meist auch später keine stabilen Lesegewohnheiten. Entsprechend wichtig ist der Familienkontext für die Herausbildung einer lebenslangen Bindung ans Lesen.

Die Leseförderung in der Familie verfolgt im Wesentlichen zwei Ziele. Zum einen gilt es, das Kind behutsam und spielerisch in die Welt der Schriftlichkeit einzuführen, und es so auf die schulische Alphabetisierung vorzubereiten. Dazu eignen sich unterschiedliche Formen der mündlichen Kommunikation zwischen den Eltern und dem Kind: Vorlesen und Erzählen von Geschichten, gemeinsames Bilderbuch-Lesen, Sprachspiele/Kinderreime und -lieder etc.

Dabei sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Wichtig ist lediglich, in der gemeinsamen lustvollen Beschäftigung mit Sprache und Texten eine Atmosphäre dichter emotionaler Verbundenheit zwischen Bezugsperson und Kind herzustellen.

Der Text erscheint zunächst als ein „Gestöber der Lettern“ (Walter Benjamin), von dem sich das Kind bezaubern lässt. Das Vorlesen wird als magische Praxis erlebt, der Text körperlich und sinnlich erlebt (Reime, Sprachmelodie, Rhythmus …). Das Hören ist eine wesentliche Voraussetzungen für den Zugang zur geschriebenen Literatur, zur eigenen Lektüre.

Eine zweite Hauptaufgabe der Lesefrühförderung ist, die Lust am Lesen zu wecken und für Lesemotivation zu sorgen. Dies gelingt am besten, wenn man in der Familie ein positives, anregendes Leseklima schafft. Folgende Faktoren tragen zu einem günstigen Leseklima bei:

  • Einbindung des Vorlesens in den Familienalltag
  • Elterliches Lesevorbild
  • Zum Lesen verführen: Ermahnungen sind ein untaugliches Mittel zur Leseförderung!
  • Gutes allgemeines Familienklima
  • Präsenz von Büchern: Bücher müssen als Gebrauchsgegenstand des Alltags und als etwas Nützliches erlebt werden.
  • Ein möglichst großes und abwechslungsreiches Angebot an Lesestoffen: Erlaubt ist, was Lesefreude weckt!
  • Lesen muss als Teil einer umfassenden Medienkompetenz gefördert werden: Auch andere Medien sind erlaubt!

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Grundstein einer Lesekarriere in der Familie gelegt wird. Die positive Erfahrung eines frühen und lustvollen Umgangs mit Büchern ist für den Erwerb von Lesekompetenz entscheidend.

 

Zum Weiterlesen:

Literaturtipp

Andrea Bertschi-Kaufmann: Das Lesen anregen, fördern, begleiten. Kallmeyer Verlag 2006. ISBN 978-3-7800-2079-3