aus dem 1. anstösse 09/10, Seite 17, Werkbrief der Kath. Jugend und Jungschar Vorarlberg

Von Joe Lederer 

Einmal habe ich eine Zeit lang in China gelebt. Ich war im Frühling in Shanghai angekommen und die Hitze war mörderisch. Die Kanäle stanken zum Himmel und immer war der ranzige, üble Geruch von Sojabohnenöl in der Luft. Ich konnte und konnte mich nicht eingewöhnen. Neben Wolkenkratzern lagen Lehmhütten, vor denen nackte Kinder im Schmutz spielten. Nachts zirpten die Zikaden im Garten und ließen mich nicht schlafen. Im Herbst kam der Taifun und der Regen stand wie eine gläserne Wand vor den Fenstern. Ich hatte Heimweh nach Europa. Da niemand da war, mit dem ich befreundet war und der sich um mich kümmerte, wie mir zu Mute war, kam ich mir ganz verloren vor in dem Meer von fremden, gelben Gesichtern.

Und dann kam Weihnachten. Ich wohnte bei Europäern, die chinesische Diener hatten. Der oberste von ihnen war der Koch, Ta-Tse-Fu, der große Herr der Küche. Er redete gebrochen deutsch und war der Dolmetscher zwischen mir und dem Zimmer-Kuli, dem Ofen-Kuli, dem Wäsche-Kuli und was es da eben sonst noch an Dienerschaft im Haus gab. Am heiligen Abend saß ich verheult in meinem Zimmer. Da überreichte mir der Ta-Tse-Fu ein Geschenk. Es war eine chinesische Silbermünze mit einem Loch in der Mitte, und durch das Loch waren viele bunte Wollfäden gezogen und dann zu einem Zopf zusammengeflochten.

„Eine sehr alte Münze“, sagte der Koch sehr feierlich. „Und die Wollfäden gehört auch dir. Wollfäden sind von mir und mein Frau und vom Zimmer-Kuli und sein Schwester und von Eltern und von Brüder und von Ofen-Kuli – von uns allen sind die Wollfäden.“

Ich bedankte mich sehr. Es war ein merkwürdiges Geschenk – und noch viel merkwürdiger als ich zuerst dachte. Denn als ich die Münze mit ihrem bunten Wollzopf einem Bekannten zeigte, der seit Jahren in China lebte, erklärte er mir, was es damit für eine Bewandtnis hatte: Jeder Wollfaden war eine Stunde des Glücks.

„Willst du von dem Glück, das dir für dein Leben vorausbestimmt ist, eine Stunde des Glücks abtreten?“ Und Ofen-Kuli, Zimmer-Kuli und Wäsche-Kuli und ihre Verwandten hatten für mich, die fremde Europäerin, einen Wollfaden gegeben, als Zeichen, dass sie mir von ihrem Glück eine Stunde des Glücks schenkten.

Es war ein großes Opfer, das sie brachten. Denn wenn sie auch bereit waren, auf eine Stunde des Glücks zu meinen Gunsten zu verzichten, es lag nicht in ihrer Macht zu bestimmen, welche Stunde aus ihrem Leben es sein würde. Das Schicksal würde entscheiden, ob sie die Glücksstunde abtraten, in der ihnen ein reicher Verwandter sein Hab und Gut verschrieben hätte, oder ob es nur eine der vielen Stunden sein würde, in der sie glücklich beim Reiswein saßen, ob sie die Glücksstunde weg schenkten, in der das Auto, dass sie sonst überfahren hätte, noch rechtzeitig bremst – oder die Stunde, in der das junge Mädchen vermählt worden wäre.

Blindlings und doch mit offenen Augen machten sie mir, der Fremden, einen Teil ihres Lebens zum Geschenk. Nun ja, die Chinesen sind abergläubisch. Aber ich habe nie wieder ein Weihnachtsgeschenk bekommen, das sich mit diesem hätte vergleichen lassen. Von diesem Tag an habe ich mich in China zu Hause gefühlt. Und die Münze mit dem bunten Wollzopf hat mich jahrelang begleitet.

Eines Tages lernte ich jemanden kennen, der war noch übler dran als ich damals in Shanghai. Und da habe ich einen Wollfaden genommen, ihn zu den anderen Fäden geknüpft und habe die Münze weitergegeben.