Fachartikel von Brigitte Dorner
Das Rockkonzert als religiöses Event
Musik begleitet uns oft den ganzen Tag lang, zum Teil ohne dass wir uns dessen bewusst sind: in der Früh beim Aufstehen, auf dem Weg zur Schule oder in die Arbeit, im Büro, beim Einkaufen, beim Ausgehen, etc. Sie ist also auf der einen Seite völlig in unseren Alltag integriert, aber auf der anderen Seite auch eine Flucht aus dem alltäglichen Geschehen. Diese Unterbrechung und Übersteigung unserer Lebenswirklichkeit geschieht in verdichteter Weise vor allem auch auf Rock- und Popkonzerten. Im Gegensatz zur täglichen Berieselung mit Musik tritt während eines Konzertes alles Unwichtige in den Hintergrund.
Kult und liturgischer Akt
Ein Rock-Konzert ist ein Kult-Ereignis und es gibt einige Analogien zum traditionellen Gottesdienst. Es ist vergleichbar mit einer liturgischen Aufführung oder einer „Liturgie von ‚call and response’, von Ruf und Antwort“ (H. Albrecht). Der Star fungiert als Priester oder Magier, er wird zum „Liturg“, zum „cult leader“ und zieht das Publikum völlig in seinen Bann. Die Riten unterscheiden sich je nach Band und Art ihrer Anhängerschaft. Die Einstimmung bzw. Vorbereitung auf so ein „kultiges“ Ereignis läuft aber immer ähnlich ab: meist müssen die Tickets schon Monate vorher gekauft werden (teilweise sind die Karten schon innerhalb weniger Stunden ausverkauft) und die Fans bereiten sich auf das Konzert vor, indem sie sich die CDs kaufen und anhören, sich die gleichen T-Shirts zulegen, sich über den Verlauf der Tournee informieren und schlussendlich in Scharen zum Konzert „pilgern“, wo sie stundenlang bis zur Ankunft der Musiker ausharren. Vor dem „main act“ treten meistens noch „support acts“ auf. Mit dieser so genannten „Suspense-Strategie“ lässt der Star auf sich warten und die Anspannung der Fans steigert sich ins Unermessliche, bis sie ihn herbeirufen. Was dann passiert, kommt einer Gotteserscheinung gleich, denn der „Gott“ des Popkults erscheint persönlich. Alle möchten ihm nahe sein, doch nur ein paar wenigen Fans ist es möglich, ihre/n Angebetete/n wirklich zu berühren, wie z.B. beim „stage diving“. Die Halle oder das Stadion wird so zu einem „heiligen Ort“ und die Dauer des Konzertes wird zur „heiligen Zeit“. Wie im Gottesdienst kommt es auch im Rockkonzert zu einer raumzeitlichen Entgrenzung. Vor allem das Zeiterleben ist intensiver; innerhalb von einer kurzen Zeit passiert viel mehr als normalerweise. In ihrem Adrenalinrausch geraten die Fans in Ekstase oder in Trance und es kommt zu einem Flow-Erleben. Was um sie herum passiert, wird nicht mehr wahrgenommen und zur reinen Nebensächlichkeit. „’Es’ ist da, das ‚feeling’. Die Erlösung, die Enthebung, das große Vergessen. (H. Albrecht)“ Der graue Alltag existiert für kurze Zeit nicht mehr; es ist der perfekte Augenblick, eine erfüllte Zeit, eine günstige Gelegenheit – der so genannte Kairos.
Unterbrechung des Alltags
Ein Rockkonzert ist, so wie bei einem Gottesdienst, wie die Teilnahme an einem Fest. Auch bei einem Fest werden Alltag und Gewohnheiten unterbrochen. Es wird zu einem besonderen, sakralen Ereignis mit unterschiedlichen Ritualen. Gerade weil diese Konzerte solche Highlights im grauen Alltag sind, fallen viele Fans in ein schwarzes Loch, wenn ein Konzert vorüber ist. Um diese „Durststrecke“ so kurz wie möglich zu halten, ist das Ziel, so viele Konzerte wie möglich zu besuchen. Bei einem Fest und derartigen Kult-Events spielen auch das Gruppenerlebnis und das Gemeinschaftsgefühl, das durch die gemeinsame Partizipation gestärkt wird, eine große Rolle. Durch die call and response-Technik, das Mitsingen, Mittanzen, Mitklatschen, sind die Fans völlig in das Geschehen eingebunden und dadurch auch miteinander verbunden. Standardisierte Rituale, an denen alle teilnehmen, sind beispielsweise „die Welle“ und das Anzünden von Feuerzeugen bei Balladen oder Liebesliedern. Das Publikum wird so zu einer homogenen Masse. Das Gefühl das dabei entsteht – die Exstase – sieht Emile Durkheim als die Wurzel religiöser Erfahrungen. So wie in einem Gottesdienst stiftet also auch das Rockkonzert immer Gemeinschaft. Sich eine CD zu Hause anzuhören ist nicht das Gleiche, wie dieselben Lieder auf einem Konzert zusammen mit Tausenden von Menschen mitzuerleben, wo alle Sinne angesprochen werden. Die Rockkultur ist eine Kultur, die die Gemeinschaft sucht und diese Gemeinschaft macht den Mehrwert aus. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Sex, drugs and rock´n´roll
Die Überschreitung von Grenzen hat in der Rockmusik eine große Bedeutung. Bei einem Fest ist es ganz normal, dass Konventionen sexueller, sozialer oder religiöser Natur übertreten werden. Das allseits bekannte Motto der Rockkultur heißt: „Sex, drugs and rock’n’roll“. Sexuelle Ausschweifungen, Drogenexzesse und ohrenbetäubende Musik stehen auf der Tagesordnung; gesellschaftliche Konventionen werden außer Acht gelassen. Dadurch wird versucht, sich Zugang zu einer anderen Wirklichkeit zu verschaffen. Rockmusik durchbricht aber nicht nur soziale Normen, sondern auch die Grenzen des Selbst und des alltäglichen Erlebens; es wird von ekstatischen und enstatischen Bewegungen im popmusikalischen Erleben gesprochen (G. Fermor). Dabei handelt es sich nicht nur um ein Heraustreten aus sich selbst, sondern auch um eine Hinwendung zu seinem Inneren wie bei den Mystikern. Der irische Musiker Van Morrison meint, dass Musik im Idealfall Zustände von Meditation und Ekstase hervorruft, aber auch die Menschen zum Nachdenken anregt. Ein Rockkonzert wirkt sich aber natürlich auf jeden Fan unterschiedlich aus.
Aus: Dorner, Brigitte, „U2 ist ihre Religion, Bono ihr Gott“ Zur theologischen Relevanz der Rock- und Popmusik am Beispiel von U2. Marburg 2007.
Literatur:
Albrecht, Horst, Die Religion der Massenmedien, Stuttgart, 1993.
Fermor, Gotthard, Ekstasis. Das religiöse Erbe in der Rock- und Popmusik als Herausforderung an die Kirche, Praktische Theologie heute, Bd. 46. Stuttgart 1999.
Koenot, Jan, Hungry for Heaven. Rockmusik, Kultur und Religion. Düsseldorf 1997.
Tischer, Rolf, Postmoderner Synkretismus im Bereich der Pop- und Rockmusik, in: Bubmann, Peter (Hg.) Pop und Religion. Auf dem Weg zu einer neuen Volksfrömmigkeit? Stuttgart 1992.