Psychologin Dr. Veronika Burtscher-Kiene über die Spuren, die Kriegsbilder bei Kindern hinterlassen und wie wir unsere Empathie aufrechterhalten können.

Ist es unangebracht, in einem privilegierten Land wie Österreich zu fragen, wie es uns und unseren Kindern nach einem Jahr Krieg in der Ukraine geht?

Veronika Burtscher-Kiene: Nein. Auch wenn wir den Luxus haben, in einem sicheren Land zu leben, ist es immer wichtig, einen Blick auf unsere Kinder zu werfen. Der Kriegsbeginn in der Ukraine im vergangenen Jahr war für uns alle schockierend. Die Kinder haben die Bestürzung, Unsicherheit und Sorge der Eltern mitbekommen. Das hatte möglicherweise Einfluss auf sie. Daher ist es unsere Pflicht, immer wieder genau auf die Kinder zu achten. Um zu schauen: Gibt es Fragen und Unsicherheiten in Hinblick auf dieses Ereignis? Eine gesunde Entwicklung unserer Kinder sollte immer im Vordergrund stehen.

Kinder, aber auch viele Erwachsene, waren bzw. sind das erste Mal mit einem Krieg in unmittelbarer Nähe konfrontiert.Was hat das in den letzten Monaten mit uns gemacht?

Veronika Burtscher-Kiene: Bei dieser Frage müssen wir unterscheiden zwischen Erwachsenen und Kindern und natürlich auch zwischen persönlich betroffenen Menschen und jenen, die sich zwar mit dem Verlauf des Krieges beschäftigen, aber keine unmittelbare Betroffenheit erleben. Für Kinder in Österreich ist der Krieg an sich weit weg. Sie können die Dimensionen dieses Weltgeschehens nicht von sich aus begreifen. Es ist die Frage, wie weit sie eine Betroffenheit und Unsicherheit bei den Erwachsenen in ihrer Umgebung mitbekommen. Wenn Eltern die Ereignisse häufig thematisieren, auch ihre eigene Unsicherheit hinsichtlich der damit einhergehenden Konsequenzen, dann kann sich diese Emotion auf die Kinder übertragen.
Wenn Eltern sich aber primär mit anderen Erwachsenen unterhalten und das Thema bei den Kindern somit nicht mehr allzu präsent ist, ist der Fokus der Kinder eher auf ihre unmittelbare Lebenswelt fokussiert. Eine Rolle in den vergangenen Monaten hat natürlich auch gespielt, inwieweit die Bildungseinrichtungen das Thema aufgenommen haben. Es waren dann auch Kindergärten oder Schulen, die sich Rat gesucht haben, wenn zum Beispiel ein Kind aus einer Kriegsflüchtlingsfamilie in die Einrichtung gekommen ist. Wie kann es gut integriert werden? Wie kann mit den Kindern vorbereitend gesprochen werden, welches Schicksal dieses Kind erlebt hat? In solchen Gesprächen mit Kindern ist und bleibt eine kindgerechte Sprache wichtig. Aber auch, dass sensibilisiert wird, wie viel man einem Kind auf einmal sagen kann.

Das Leid in der Ukraine wächst, dennoch sind Kriegsbilder für viele von uns zum „Alltag“ geworden. Gibt es eine emotionale Abstumpfung oder einen „Gewöhnungseffekt“?

Veronika Burtscher-Kiene: Ich bin mir nicht sicher, ob wir bei Kindern von einem „Gewöhnungseffekt“ sprechen können. Je nach Alter sind diese Ereignisse für sie fern ihrer eigenen Lebensrealität und damit nicht präsent. Grundsätzlich ist bei Kindern aber zu beobachten, dass sie über eine gute Ressource bzw. über ein gutes Gefühl für sich selber verfügen, wie sie es schaffen, negative Informationen für sich zu integrieren. Diese Resilienz hilft ihnen, negative Dinge im Leben zwar wahrzunehmen und anzuerkennen, aber dennoch auch wieder fröhlich ihr Leben zu leben.

Wie können wir unsere Empathie aufrecht erhalten?

Veronika Burtscher-Kiene: Dafür braucht es Ausgeglichenheit. Das heißt, wir sollen uns immer wieder mit den schrecklichen Dingen beschäftigen, wir sollen es in der Zeitung nicht überblättern oder beim Fernsehen gleich umschalten. Wir müssen uns dem stellen und anerkennen, welches Leid herrscht. Auf der anderen Seite dürfen wir uns aber auch nicht im Mitleiden verlieren, denn dann sind wir nicht mehr handlungsfähig – weder dahingehend, Hilfe zu leisten, noch dahingehend, unser eigenes Leben zu meistern. Ich denke, in dieser Ausgewogenheit ist es möglich, aus der Dankbarkeit heraus für das am Anfang unseres Gesprächs angeführte Privileg, auch anderen Menschen, denen es nicht so gut geht, etwas zurückzugeben. Das ist übrigens durchaus etwas, was wir mit unseren Kindern – und da können wir schon bei kleinen Kindern anfangen – immer wieder besprechen können, wenn es sowohl um das materielle Wollen, als auch um das Thema Sicherheit geht: Wertzuschätzen, dass es uns grundsätzlich gut geht, dass wir Unterstützung bekommen
können und vor allem aber, dass wir ohne große Angst um unsere Sicherheit das Leben leben können. ANDREAS HALLER

Dr. in Veronika Burtscher-Kiene
Klinische- und Gesundheitspsychologin,
Beraterin imEhe- und Familienzentrum,
Bloggerin auf www.erziehungsgedanken.com,
zweifache Mutter.