Ein oft zitiertes afrikanisches Sprichwort besagt, dass es für die Erziehung eines Kindes ein ganzes Dorf brauche. Eine etwas modernere Redensart spricht davon, dass durch die Digitalisierung unserer Zeit die ganze Welt zu einem großen Dorf gemacht worden ist. Es bietet sich an dieser Stelle an, darüber zu polemisieren, ob wir als Familien endlich dort angelangt sind, dass die Erziehung nicht mehr allein von den Eltern abhängt. Das ganze globalisierte Dorf beteiligt sich an der Persönlichkeitsentwicklung unserer Kinder: vor allem der Onkel Google, die Tante Insta, die fancy Cousine mit ihrem Blog oder der Nachbar mit den coolen Tweets. Also what`s up?

Neben der virtuell gewordenen Kontaktpflege kam schleichend und teilweise unbemerkt noch ein anderer Aspekt dazu. Die Dorfmitte befindet sich seit einigen Jahren mitten in unserem Wohnzimmer. In einem Ortszentrum findet man für gewöhnlich die Bank und das Kulturhaus, das Lebensmittelgeschäft und die Behörde, die Schule und den Freizeitpark. Ein Blick auf meine Favoritenliste im Internetbrowser bestätigt meine Vermutung. Die Wege sind nicht nur kürzer, sondern de facto abgeschafft worden, die Zeitersparnis ist enorm, alles ist nur einen klitzekleinen Mausklick entfernt. Ich kann gleichzeitig eine Überweisung tätigen, neue Terrassenmöbel bestellen während ich mich mit der Klassenlehrerin meines Sohnes über dessen Verhalten in der Schule chattend unterhalte. Das ist schon besonders benutzerfreundlich: Ich kann alles selbst und immer erledigen, ohne Rücksichtnahme auf die Öffnungszeiten.

Die europäischen Länder kämpfen um die Vorreiterrolle in der Etablierung der digitalen Kompetenz bei möglichst allen Altersgruppen. Kein Wunder, denn der wirtschaftliche Vorteil scheint durch das Outsourcing der Arbeitskraft in das Wohnzimmer stark zu wachsen. Der deutsche Soziologe G. Günter Voß erforscht seit Jahrzehnten die Problematik des „arbeitenden Kunden” und übt scharfe Kritik an der subtil angelegten Ausbeutung des Konsumenten. Sensibilisiert durch seine Impulse und Gedanken fallen mir plötzlich einige Schattenseiten dieser Unmittelbarkeit auf. Bei allen Vorteilen der Selbstbestimmung und Mitgestaltung kann ich mich vor einigen Gefahren kaum schützen. 

Gefahr der Selbstausbeutung 

Wer kennt es nicht? Von der Arbeit zu Hause angekommen, wartet ein großer Stapel auf mich: Rechnungen, Anmeldungen für Schulveranstaltungen, Formulare usw. Nach der Arbeit wartet das Management des Familienlebens. Ich arbeite mich durch und hab das Gefühl, beinahe Angestellter fremder Betriebe zu sein – mitten in meinem Wohnzimmer. Zur selben Zeit bin ich ein freischaffender Banker und mit der Schule kooperierender Pädagoge, ich bin ein Co-Trainer und Support-Musiker, bin Datenlieferant für Stromversorger und Feedback-Uploader für Microsoft, Google und Co. Voß verwendet hier Begriffe wie „Prosumer“ (produzierender Konsument), „customer education“ (aufgezwungene Kooperation seitens etlicher Unternehmen, ohne die im privaten Bereich rein gar nichts mehr geht) und unbemerkte „Selbstausbeutung“, wenn wir freiwillig die „Marktöffentlichkeit in den Privatraum der Intimsphäre“ einziehen lassen. Wo ist denn mein Feierabend geblieben?

Gefahr des Omni-Expertise 

Durch die Management-Aufgaben werde ich nicht nur zum Quasi-Mitarbeiter verschiedener Organisationen. Frühere Dienstleister lassen den beratenden Sachbearbeiter verschwinden und ersetzen ihn durch einen Beratungs-Chat, hinter dem immer öfters nur ein Algorithmus steckt. So muss ich mir bei meinen Recherchen in Bezug auf den neuen Taschenrechner meiner Tochter oder bei der richtigen Größe der Sportausrüstung für den Junior mit den Standardantworten der künstlichen Intelligenz herumärgern. Der von den Behörden angepriesene niederschwellige Zugang zu den Förderungen bedarf einer Sondereinheit in der YouTube-Akademie, um den Online-Antrag richtig auszufüllen. Wenn die Steuererklärung und der Versicherungsabschluss mir tatsächlich was bringen soll, muss ich abends beinahe ein halbes BWL-Studium absolvieren. Bildung durch die Hintertür: jeder muss Experte in allen Bereichen werden. Der Wald der Angebote wird immer dichter, aber langsam habe ich keinen Durchblick mehr und renne im Kreis. Und öfters mache ich dann einen Fehler, weil ich zu müde war, auch noch die Bewertungen anderer Hobby-Experten durchzulesen. 

 

Gefahr der Entgrenzung

Auch die immer unklareren Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit spielen eine große Rolle. Laut Voß entsteht eine räumliche, zeitliche und emotionale „Entgrenzung“. Ich erlebe tatsächlich eine Art Gleichzeitigkeit: Sowohl Mails für die Arbeit beantworten als auch die Kinder mit ihren Sorgen um die nächste Schularbeit ernst nehmen. Ich merke, dass es stressig wird: Darf ich mir ein Ende der professionell konzentrierten Haltung erlauben? Es ist noch so viel zu erledigen aber Familie ist doch kein Betrieb! Durch mein Homeoffice weiß ich es nicht mehr und auch die Kinder fragen mich vorsichtig, wann wir endlich mit der guten Laune beginnen dürfen. 

MMag. Bohuslav Bereta MSc

Lektüre zum Thema 

G. Günter Voß, Kerstin Rieder, Der arbeitende Kunde: Wenn Konsumenten zu unbezahlten Mitarbeitern werden, Campus 2005 

Hans J. Pongratz, G. Günter Voß. Arbeitskraftunternehmer: Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, edition sigma, 2. Auflage 2004