Rituale – Sie pflastern unseren ganzen Lebensweg. Nicht immer sind sie uns als Ritual bewusst oder macht sich ihre Wichtigkeit direkt bemerkbar. Oft ist es erst ihr Wegfallen, das uns klarmacht, wie essenziell sie sind.

Rituale in Familien

Rituale sind so individuell wie Familien und ihre Mitglieder. Sie geben Struktur und Verlässlichkeit und einer Familie auch eine eigene Identität. Es sind dabei nicht immer die großen, gesellschaftlich definierten Rituale, sondern kleine Routinen, die sich über die Zeit entwickelt haben, die eine Familie definieren. Kinder lieben und brauchen Rituale, denn Rituale schaffen Nähe.

Installieren von Ritualen
Es gibt zwei Wege, wie Rituale ihren Platz in der Familie finden. Manche werden bewusst entschieden, andere wiederum entstehen unbemerkt. Erst wenn sie von Kindern eingefordert werden, wird klar, welche Bedeutung sie auch für sie haben. Ihr Stellenwert wird meist bemerkbar, wenn sich die Struktur innerhalb des Familiengefüges verändert.
Anbei ein Beispiel einer vermeintlich kleinen Veränderung: Die Kinder waren es gewohnt, dass die Eltern zur Tür kommen, wenn sie von der Schule nach Hause kommen, sie mit einer Umarmung und einem Kuss begrüßen. Nun kam es, dass sich die zeitliche Struktur ein wenig verändert hat. Dass die Eltern an manchen Tagen kurz vor ihnen von der Arbeit kommen und gerade das Mittagessen kochen, wenn die Kinder klingeln. So wurde es praktischer, schnell den Öffner zu drücken und aus der Küche eine Begrüßung zu rufen, als zur Tür zu gehen.
Sensibel wie Kinder aber nun einmal sind, hat diese scheinbar kleine Veränderung zu Irritation und zu Protest geführt.

Wegfall von Ritualen
Rituale haben einen gewissen Gewohnheitscharakter. Sie schleichen sich automatisch in den Alltag ein. Für Kinder geben sie Halt und Sicherheit. Bereits bei Babys kann beobachtet werden, dass Veränderung von Gewohntem, von Erwartbarem zu Unruhe führt. Und manchmal hilft es Eltern, Reaktionen ihres Babys, aber auch von kleineren oder älteren Kindern unter diesem Aspekt zu betrachten.

Ein weiteres Beispiel aus dem Alltag dazu: Man ist auf einem Geburtstagsfest eingeladen und isst noch dort zu Abend. Vielleicht denkt man als Eltern auch daran, die Kinder extra darauf hinzuweisen, etwas zu essen. Geht aber irgendwie davon aus, dass dies ja selbstverständlich ist. Dann, zu Hause, wenn wir als Erwachsene schon gedanklich dabei sind, den Kindern die Zähne zu putzen und sie ins Pyjama zu stecken, kommt die Frage: „Und was gibt es zum Abendessen?“. Im ersten Moment ist man als Eltern verwirrt. Doch wenn wir unser Kind dann fragen, stellen wir fest, dass es nicht darum geht, nicht ins Bett zu wollen oder dass es tatsächlich noch Hunger hat, sondern es fällt etwas weg, was doch eigentlich zum Abendritual gehört. Für Kinder kann dies schon ein großer Eingriff in ihren Alltag bedeuten. Schon der Wegfall eines vermeintlich kleinen Rituals hinterlässt eine Lücke bzw. kann eine bestehende Struktur durcheinanderbringen. Dann heißt es, dieses Ungleichgewicht wieder auszugleichen.

Veränderung von Ritualen

Familiäre Rituale unterliegen einer natürlichen Veränderung. So wie sich die einzelnen Familienmitglieder entwickeln, verändern sich und wachsen auch diese. Doch wie die beiden vorherigen Beispiele zeigen, ist ein zentraler Punkt, Veränderungen auszusprechen und nachzuspüren, ob dies für alle passend ist.

Abschiedsgesten sind gute Beispiele dafür, wie Veränderungen möglich sind. Eine Umarmung und ein Kuss zum Abschied ist etwas, was bei Kleinkindern nicht fehlen darf. Je älter Kinder werden, umso weniger wollen manche das – zumindest nicht vor anderen. Da heißt es Alternativen zu finden. Dabei bewährt sich oft die Kreativität von Kindern.
Ein wunderschönes Beispiel habe ich vor Kurzem gehört: Hier ist das abendliche Rituale des Gute-Nacht-Kusses und der festen Umarmung, nicht freiwillig, sondern krankheitsbedingt weggefallen. Weil das Mädchen aber einfach nicht darauf verzichten wollte, hat es kurzerhand ihr Kuscheltier zur Vermittlerin auserkoren. Das heißt, der Kuss wurde dem Tier auf die Wange gedrückt und dann die Wange an der eigenen Wange abgestreift. Gleich ging es in die andere Richtung. Weiters wurde das Kuscheltier einmal ganz fest gedrückt und so die Umarmung stellvertretend weitergegeben.

Man sieht, wie wichtig für dieses Mädchen das abendliche Ritual ist und welche kreativen Weg es sich hat einfallen lassen, es trotz der Umstände umzusetzen.

Ändern aber nicht streichen

Wie wir sehen, haben familiäre Rituale oft auch etwas mit Routine zu tun. Sie können Sicherheit und Wohlgefühl geben. Gleichzeitig dürfen sie nicht zu starr werden und damit der natürlichen Entwicklung im Wege stehen.  Sie zu verändern verlangt Mut, Offenheit und Ehrlichkeit. Doch ist es in manchen Lebensphasen notwendig. So ist es für ein Kleinkind eine unbezahlbare Wohltat, wenn es am Abend von den Eltern eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen bekommt. Wenn es dann selber schon lesen kann, gewinnt die Neugierde Oberhand und es möchte das selber probieren – vielleicht noch wohlig eingekuschelt in den Armen eines Elternteils. Wenn es dann ins Teenageralter kommt, müssen wieder ganz neue Formen des Abendrituals gefunden werden.

Rituale bereichern unser Leben. Sie fördern Zusammenhalt und Sicherheit. Kinder lieben Rituale. Und doch unterliegen auch sie einer natürlichen Entwicklung und verändern sich mit den Familienmitgliedern mit. Der Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt. Erlaubt ist, was allen gefällt und ein wohliges Gefühl gibt.  

Mag. Dr. Veronika Burtscher-Kiene

Elternbildnerin beim Katholischen Bildungswerk Vorarlberg
Psychologin im Ehe- und Familienzentrum