Wie kann ich meine eigenen Grenzen wahrnehmen?

Aufgrund unerklärbarer körperlicher Beschwerden sucht die 43-jährige Frau Z. die Beratungsstelle auf. Sie schildert Symptome wie Schwindel, Beinkribbeln, Sehstörungen, Einschlafgefühl in Armen und Beinen oder auch, dass ihr Gehirn sich wie „ein Schwamm“ anfühlt. Frau Z. beschreibt, dass ihr sehr schnell alles zu laut und zu grell wird, und dass sie von ihrer Umgebung schnell genervt ist.

Als Zeitpunkt für das erstmalige Auftauchen der Symptome nennt Frau Z. einen Beerdigungstermin vor rund einem halben Jahr.

Frau Z. lebt seit sieben Jahren in einer Partnerschaft. Sie hat eine 18-jährige Tochter und einen 17-jährigen Sohn aus erster Ehe sowie einen viereinhalbjährigen Sohn aus der aktuellen Partnerschaft. Alle leben gemeinsam unter einem Dach. Beruflich kümmert sich Frau Z. um den Familienhaushalt.

Bei KlientInnen mit körperlichen Symptomen ist der erste Schritt nachzufragen, ob eine medizinische Abklärung der Symptome bereits stattgefunden hat. Erst wenn körperliche Ursachen ausgeschlossen werden können, kann man sich gemeinsam auf die Suche nach möglichen anderen Ursachen machen. Frau Z. erzählt, dass die medizinische Abklärung keinerlei körperliche Ursachen ergeben habe. Somit konnte im vorliegenden Fallbeispiel gemeinsam mit der Klientin die Suche nach anderen Auslösern für die beschriebenen Symptome begonnen werden.

Bei einer solchen Symptomatik wird zu Beginn einer Beratung immer nach den Schlafgewohnheiten und der Schlafqualität der Betroffenen gefragt, um bereits merkbare Auswirkungen der Belastung zu erkennen und auch Erholungsphasen zu identifizieren.

Frau Z. beschreibt einen sehr unruhigen Schlaf. Zudem erzählt sie, dass sie sich über alle möglichen Dinge Gedanken macht, sobald sie erwacht. Dies ist bereits ein deutliches Zeichen für Überforderung und fehlende Entspannung.

Zunehmend reift die Vermutung, dass eine Ursache für die Symptome der Klientin in ihrer Alltagsgestaltung liegen könnte. Gemeinsam haben wir begonnen, den Alltag von Frau Z. zu analysieren. Dabei zeigte sich schnell, dass die Klientin sich sehr stark unter Druck setzt, ihre zahlreichen Aufgaben zu erledigen, und hohe Anforderungen an sich selber stellt. Sie sieht sich allein für den Haushalt verantwortlich und erlebt keinerlei Unterstützung von Seiten des Lebensgefährten oder ihrer Kinder. Zudem schildert sie Schwierigkeiten in der Erziehung ihres jüngsten Sohnes, aber auch hier den Perfektionsanspruch an sich selber. Der Alltag von Frau Z. ist von morgens bis abends durchgeplant und dennoch vom Gefühl begleitet, die Arbeit nie zu Ende zu führen und sie nicht zu ihrer Zufriedenheit  oder der anderer zu erledigen.

Da Frau Z. ständig wiederholt, dass sie ohnehin nicht viel leistet und andere noch mehr erledigen als sie, haben wir gemeinsam die Tätigkeiten ihres Arbeitstages aufgeschrieben und damit visualisiert. Dem gegenüber haben wir ihre Pausen gestellt sowie Freizeittätigkeiten, die sie inzwischen aufgegeben hat. Trotz des augenscheinlichen Ungleichgewichts hatte Frau Z. Schwierigkeiten, die Fülle in ihrem Alltag zu erkennen und für sich selber Möglichkeiten zu entwickeln, Arbeiten zu verschieben oder auch Familienmitglieder in die Pflicht zu nehmen. Für ihre körperlichen Symptome wollte sie weiterhin lieber einen medizinischen Befund, als zu erkennen, dass der Körper ihr deutliche Signale gibt, dass sie langsamer werden muss und sich mehr Entspannung gönnen sollte.

In einer Gesellschaft, in der Höchstleistung ein Anspruch an jeden Menschen ist, ist die eigentliche Herausforderung weniger die Erledigung der Arbeit selber, als vielmehr die Fähigkeit, auf sich selber zu hören und sich zu erlauben, der Seele und dem Körper etwas Gutes zu tun.

Dabei ist es vor allem bei Tätigkeiten im eigenen Haushalt wichtig, nach „Dienstschluss“ den Arbeitsplatz und die damit verbundenen Aufgaben hinter sich zu lassen, um die restliche Zeit mit freudvollen Freizeitaktivitäten zu verbringen. Denn auch hier sollte der Gedanke Erleichterung bringen: „Morgen ist auch noch ein Tag.“

Mag. Dr. Veronika Burtscher-Kiene

Ehe- und Familienzentrum, Feldkirch Beratungsstelle