Leitgedanken von Sabine Gritzner-Stoffers aus dem Pfarrblatt Ausgabe 2 März 2019.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass das Gebet in unseren Tagen etwas aus der Mode gekommen ist. Schade eigentlich! Denn Beten ist eine wunderbare Sache und das gleich in mehrerlei Hinsicht.

Das fängt schon bei den Vorbereitungen zum Gebet an: wir müssen still werden. Um konzentriert beten zu können, müssen wir heraustreten aus der Hektik  und Betriebsamkeit des Alltags. Für eine kurze Zeit Abstand gewinnen, eine Pause machen, das Handy weglegen, durchatmen und spüren, was ist.

Dass das gar nicht so leicht ist, wusste schon der Wüstenvater Evagrius Ponticus (345-399), der im 4. Jahrhundert mit anderen christlichen Mönchen in der ägyptischen Wüste gelebt hat: „Wenn du betest, wie es sich ziemt, erwarte, was sich nicht ziemt und halte tapfer stand.“ Alle, die beten oder meditieren, wissen, wovon Evagrius spricht. Alle möglichen Gedanken gehen einem durch den Kopf, wenn man versucht, still zu werden: was noch alles zu tun ist, was passiert ist - bis hin zu Belanglosigkeiten, die bei genauem Hinsehen eigentlich gar keine Bedeutung für uns haben. Und doch lohnt sich die Mühe, das „tapfere Standhalten“. Denn in diesen Atempausen können wir uns selbst begegnen.

Sich selbst begegnen. Das sagt/schreibt sich so leicht. Aber wollen wir das wirklich? Die Begegnung mit uns selbst ist ein vielversprechendes und zugleich riskantes Unterfangen! Es ist gar nicht so leicht, wirklich ehrlich mit sich selber zu sein. Denn das bedeutet, sich selber nichts  vorzumachen. Genau hinzuschauen. Das mag wunderbar und erfreulich sein, das kann aber auch erschrecken und wehtun. Der Blick hinter die  Fassade, in unser Innerstes verlangt nicht nur Konzentration, sondern oft auch Mut.

Diesen Mut hat die Fastenaktion der Evangelischen Kirche heuer zum Thema gemacht. Das Motto „Mal ehrlich! 7 Wochen ohne Lügen“ lädt ein, der Wahrheit auf die Spur zu kommen – im Umgang mit anderen Menschen, mit Gott und  mit sich selbst. Das Thema der vierten Fastenwoche lautet demgemäß „Sich nicht selbst belügen“. Sich selbst etwas vorzumachen ist genaugenommen auch eine Lüge. Allgemein gesprochen steht die Lüge dem Leben im Weg. Das gilt im zwischenmenschlichen Bereich, wo die Lüge das Vertrauen zerstört. Das gilt aber auch für all die Unwahrheiten, die wir uns selbst immer wieder über uns „erzählen“. Wir begegnen dann nur unseren Bildern von uns - aber nicht uns selbst.

Auf diese Weise kann es mit dem Gebet nicht wirklich funktionieren. Die Begegnung mit uns ist die  Voraussetzung für die Begegnung mit Gott. Gebet ist viel mehr als bloßes Reden und Formulieren. Gebet ist Begegnung: mit unserem innersten Wesen und mit Gott. Beides gehört zusammen und ist unauflöslich miteinander verbunden.

Von Martin Luther (1483-1546) stammt der Ausspruch „Heute habe ich viel zu tun, deswegen muss ich viel beten“. Für Martin Luther war das Gebet eine Kraftquelle. Ein Ort des Auftankens, der Sicherheit und Geborgenheit – ein Ort, an dem man sich zugehörig fühlt. Vielleicht würde der in unseren Tagen viel strapazierte Begriff „Heimat“ gut passen, um die Bedeutung des Gebets für Luther zu beschreiben.
Die Verbundenheit mit unserem Innersten und mit Gott schärft unseren Blick. Gerade dann, wenn ein hektischer Alltag uns im Griff zu haben droht. Ein klarer Blick und die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden zu können, erscheinen mir in unserer immer komplexer werdenden Wirklichkeit wichtig: damit wir uns nicht verlieren in den analogen und digitalen Welten unserer Zeit. Auch um des klaren Blicks willen macht es daher Sinn zu beten.

Der klare Blick ermöglicht es uns, Anteil zu nehmen am Geschehen in der Welt. Als Christinnen und Christen sollen wir darauf hinweisen, wenn etwas schiefläuft oder die Gesellschaft in Gefahr ist, wichtige Dinge zu übersehen. Der Schweizer evangelisch-reformierte Theologe Karl Barth (1886-1968) hat das einmal so gesagt: „Wie man beten soll, das steht in der Bibel; und was man beten soll, das steht in der Zeitung.“ Unsere Zeitungen sind voll mit den Themen und Herausforderungen der Gegenwart: die Klimakrise, die Fragen globaler Gerechtigkeit, die Kriege in vielen Teilen der Welt. Dem Gebet und der Fürbitte kommt auch hier eine wichtige Rolle zu.
Das Gebet ist ein großer Schatz im Christentum. Im Gebet erfahren sich  Christinnen und Christen über die Grenzen der Kirchen hinweg miteinander verbunden. Auf vielfältige Weise kann uns das Gebet  helfen, unserem Leben und Glauben auf die Spur zu kommen.