Gedanken zum 3. Fastensonntag von Thomas Berger-Holzknecht, Gemeindeleiter in Mariahilf

Am 3. Fastensonntag hören wir einen der berühmtesten Texte des Judentums und der Christenheit: die zehn Gebote. Haben Sie sie einmal auswendig gelernt? An welche können Sie sich noch erinnern? Und welches Gefühl löst diese Erinnerung bei Ihnen aus?

Ich höre innerlich die Wiederholung der Formel „Du sollst nicht …, du sollst nicht …“. Begleitet vom Bild eines streng erhobenen Zeigefingers und von schlechtem Gewissen. Es war deshalb ein Geschenk, als im Studium mein ehrwürdiger Professor für Altes Testament mir zwei Schlüssel geschenkt hat, die einen anderen Blick auf diese zentralen Worte eröffnen können.

Der erste Schlüssel ist der Hinweis, dass der Text in Exodus 20,1-17 mit einer Aussage Gottes über sich selber beginnt: Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Damit wird deutlich gemacht, was Gott für jede und jeden von uns will: ein Leben in Freiheit, mit aufrechtem Gang, ein Leben in Fülle (vgl. Joh 10,10), ein wirklich gutes Leben. Und zu allen Zeiten machen Menschen (auch in schwierigen Situationen) die Erfahrung, dass Gott in dieses Mehr an Freiheit und Lebensfülle hinein begleitet. An Ostern feiern wir, dass Gottes Lebenswunsch für uns sich sogar vom Tod nicht aufhalten lässt.

Für den zweiten Schlüssel braucht es schon Hebräischkenntnisse. Das wiederkehrende „du sollst“ kann man nämlich genau so gut auch mit „du wirst“ übersetzen; es kann beides heißen. Und plötzlich verändert sich die Dynamik des ganzen Textes: Weil Gott unser Leben in Freiheit will, weil er uns befreit und stärkt, deshalb werden wir …. Und an die Stelle der strengen Gesetze tritt ein Versprechen, welches Miteinander Gottes Liebe zu uns und zu allen Menschen hervorbringen möchte und wird. Überall wo Gottes Liebe uns von den Ketten befreit, die uns und unser Leben klein, verkrümmt und abhängig halten – dort werden wir nicht mehr stehlen, lügen, dort werden wir einander, unsere Eltern und Gott ehren.

Und dieselbe Übersetzung können wir auch versuchen, wenn Jesus in einem Gespräch mit einem jüdischen Gesetzeslehrer die vielen jüdischen Orientierungen bündelt (vgl. Mt 22,34-40): Du wirst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Du wirst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Die Fastenzeit lädt mich ein, diesen Traum Gottes von unserem Leben in Freiheit, von unserem Leben in Fülle, mit zu träumen und ihn in kleinen Schritten schon jetzt Wirklichkeit werden zu lassen. Das ist eine Umkehr, die Gott Freude bereitet.

Ich wünsche Ihnen in diesen Tagen kleine Zeichen und Erfahrungen, dass Gott Sie liebt und Ihre Freiheit, Ihre Lebendigkeit, Ihr Lebensglück wünscht. Und ich wünsche Ihnen, dass Sie erleben, was an „gutem Leben“ dann möglich sein wird.

PS: Falls Sie Lust auf eine theologische Vertiefung zu diesem Thema haben, dann empfehle ich Ihnen den Text von Dr. Nikolaus Wandinger (Lesezeit ca. 20 Minuten).

Thomas Berger-Holzknecht
Gemeindeleiter in der Pfarre Mariahilf