Prof. Zulehner zur Verteufelung des Kaufrauschs

Wien (Kathpress) In einem ausführlichen Interview in der "Wiener Zeitung" (Wochenend-Ausgabe) meinte Zulehner, es sei sinnlos, gegen den weihnachtlichen Kaufrausch zu wettern. In gesamtgesellschaftlicher, wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht müsse man gegenwärtig genau hinsehen, "bevor man als Amtsträger der Kirche in einer Materialismuskritik alles verteufelt". Denn es gehe in der Frage nicht um den Materialismus, sondern um die Grundlagen familiären Lebens und darum, ob Männer und Frauen ausreichendes Einkommen durch Arbeit bekommen.

Der Pastoraltheologe räumte ein, dass dem derzeitigen System ein gewisser "Teufelskreis" innewohne: "Wenn wir nicht genug kaufen, dann sind die Arbeitsplätze nicht mehr sicher. Und damit die Familieneinkommen bedroht." Derart "kapitalistisch" argumentiere heute selbst die Gewerkschaft, denn diese wisse genau, "dass dieses kapitalistische Moment in unserem System unverzichtbar ist". Zulehner: "Vielleicht ist heute jemand gerade dann sozial, wenn er sich eben jetzt ein neues Auto kauft und damit der Autoindustrie hilft." Somit sei die Frage, was eigentlich Solidarität ist, eine Frage zunehmender "analytischer Intelligenz".

Man müsse abwägen: "Wenn wir alle in einen Kaufstreik träten, und die Kirche es erreichen würde, dass alle so bedürfnislos lebten wie Franz von Assisi, wäre dies der Kollaps des gesamten wirtschaftlichen Systems mit fürchterlicher Not und Verelendung." Man müsse also froh sein, so der Pastoraltheologe, "dass die Kirche in Fragen der Armut nicht allzu erfolgreich ist".

Wer das System völlig verändern will, müsse ein Grundeinkommen für alle schaffen. Zulehner: "Dann könnte man vielleicht freier über eine Wirtschaftspolitik reden, die Arbeitsplätze nicht durch den Konsum am Leben erhält, sondern auch in Kauf nimmt, dass Arbeitsplätze vernichtet werden."

Der Pastoraltheologe zeigte sich allerdings überzeugt, dass es kein System gibt, das nicht auch negative und folgenschwere Nebenwirkungen hat. Zulehner: "In dieser Zwickmühle stecken wir alle – sowohl die Sozialdemokraten als auch die Liberalen und die Christlichsozialen –, und wir stehen gebannt vor der Logik des Systems." Es gelte die Vorgabe, jenen Menschen, die im System verlieren, möglichst viel Flankenschutz zu geben, weil das System als solches nicht über Nacht veränderbar ist. "Wir müssen lernen, die Übel, die wir verursachen, kleiner zu machen, wo immer wir können. Das nenne ich eine Ethik des dynamischen Kompromisses. Sie ist unverzichtbar. Und als Verantwortlicher muss ich damit leben können, immer eine schmutzige Weste zu haben", so Zulehner wörtlich. Diese Einsicht mache demütig.
 
"Religions-Komponisten"

Die Rolle der Religion in Krisenzeiten skizzierte Zulehner als "hochambivalent". Menschen mit finanziellen Engpässen könnten wegen des Kirchenbeitrags aus der Kirche austreten, andererseits erlebe man seit geraumer Zeit eine Art Megatrend hin zu einer sehr "bunten Spiritualität".

Er wolle in diesem Zusammenhang von "Religions-Komponisten" sprechen, so der Pastoraltheologe. Die Menschen würden sich aus unterschiedlichen "Musikstilen" etwas zusammenfügen. Zulehner: "Was viele suchen, ist Heilung, Ruhe, das Aufspüren Gottes in der eigenen Seelen-Wohnung. Es gibt sicher eine sehr mystische Grundstimmung in dieser Spiritualität, die nicht primär auf Dogmen aus ist, sondern vielmehr auf das Erleben."
 
Die Menschen würden spüren, dass ihr Leben zu banal, zu stressig und zu oberflächlich sei. Zulehner: "Da wäre es gut, den Weg in die eigene Tiefe zu gehen, auch in eine erfüllte Stille. Diese Leute suchen die Reise zu sich selber und hoffen, dass etwas von dem Krankmachenden in der Gesellschaft in den Hintergrund tritt." Der Pastoraltheologe ortete in diesem Befund "ein großes Potenzial mystisch geprägter, moderner Spiritualität".

Die Religionen seien gefordert, ihr Heilungspotential zu erkunden. Zulehner: "Das liegt nicht in der Dogmatik und den Katechismen, sondern eher in einer heilenden Kultur, in heilenden Ritualen, in 'healing services', also darin, dass man tief in das heilende Energiefeld Gottes eintaucht." Ein solcher Dienst wäre ein wichtiger Beitrag der Religion für die Lebenskultur unter modernen Bedingungen.

Zulehner verwies im Zusammenhang mit "healing services" auf den freikirchlichen Bereich und das Internet: "Das Internet ist heute einer der wichtigen Orte für moderne Religiosität und für die gesamte Gottesthematik, für spirituelle Aufbrüche." Man finde dort sofort in eigener Reichweite entsprechende Gottesdienste, auch in Wien.

Es gebe außerdem auch kirchliche Bewegungen wie die charismatische Erneuerung, die solche Gottesdienste im Programm haben. Zulehner: "Viele Pfarrgemeinden probieren heute, ob sie über das Juwel der Salbung kranker Menschen aus der Tradition heraus diese heilende Dimension des kirchlichen Tuns bespielen können. Und sie machen Krankengottesdienste in völlig neuer Weise – weil auch die Seele beschädigt sein kann."

Es stünde der Kirche gut an, in der Nachfolge Jesu, des "Heilands", ein "Heil-Land" zu werden, zeigte sich Zulehner überzeugt. Er sei sehr angetan davon, dass Benedikt XVI. in seiner Enzyklika "Gott ist die Liebe" genau auf die "therapeutische Seite" des Evangeliums hinweist "und sich von düsterem Moralismus zurückzieht". Wenn der Papst dieser Tendenz treu bleibt, sei er ein "hoch moderner Zeitgenosse, der bei vielen spirituell Suchenden ins Schwarze trifft".

"Welt hat genug Kinder"

Zur jüngsten innerkirchlichen Debatte um die Papst-Enzyklika "Humanae vitae" und Fragen der Empfängnisverhütung meinte Prof. Zulehner, dass man aktuellen Studien entnehmen könne, "dass unsere Sonntagskirchgänger eine durchschnittliche Kinderzahl von 2,66 haben". Diese aktiven Katholiken würden damit weit über den Durchschnitt der Bevölkerung hinaus zum Kinderbestand aktiv beitragen. "Wenn sie danach trachten, dass die Zahl ihrer Kinder nicht mehr steigt, was sie im Sinne einer verantwortlichen Elternschaft ja unbedingt selber entscheiden müssen, dann kann man nicht behaupten, dass sie Nein zum Kind sagen", betonte der Pastoraltheologe.

Er wolle die Thematik auch in einen weltweiten Zusammenhang stellen. Weltweit würden viele Kinder aus Hunger oder Krankheit sterben. Wenn ein Kontinent weniger Kinder hat, könne er Platz machen für die vielen armen, hungernden Kinder. "Man könnte ja auch sagen, das ist eine wunderbare Form der Entwicklungszusammenarbeit", so Zulehner.
Das wäre ein Denken, das der katholischen Weltkirche wohl anstünde: "Die Welt stirbt nicht aus, sie hat genug Kinder."

Wachsende weltanschauliche "Verbuntung"

Zu Fragen der Integration von Zuwanderern meinte Zulehner, dass es mit Sicherheit keine Alternative für die wachsende weltanschauliche "Verbuntung" gebe. Wo die Buntheit herrscht, könne man voneinander lernen und aus den gemeinsamen Reichtümern neue Reichtümer erwirtschaften. Wenn Kulturen in einem Raum zusammenkommen, eröffne sich die Chance, dass sie miteinander eine weitere kulturelle Entwicklung auf einer dritten Ebene beginnen.

Darum seien Systeme absurd, so Zulehner, "wo gefordert wird: Jeder, der zu uns kommt, muss unsere Kultur annehmen." Ebenso absurd sei es zu sagen: "Wir machen die Kultur der anderen mit." Auch das Nur-Nebeneinander sei absurd. Die Alternative zur kulturellen Weiterentwicklung und zu mehr Kreativität wäre die kriegerische Polarisierung, warnte der Pastoraltheologe.

Auf der Ebene der Religionsführer entwickle sich bereits ein vernünftiger Dialog, so Zulehner weiter. Bischöfe beteiligten sich nicht mehr an Anti-Minarett-Kampagnen. Sie würden es vielmehr als ihre Aufgabe ansehen, die abrahamitischen Religionen in einen plausiblen Dialog zu bringen, um so einen Beitrag zum Zusammenleben der Menschheit zu leisten. Was es aber noch viel mehr brauche, seien Bemühungen und Aktivitäten von der Basis her, von Pfarren und Moscheegemeinden, forderte Zulehner.

Christliche Wurzeln Europas

Zur Frage nach den christlichen Wurzeln Europas sagte der Pastoraltheologe: "Das lernt man zu verstehen, wenn man in Asien ist. Dort zählen die Person wie die Individualität eigentlich nichts." In Europa hingegen begründe vornehmlich das Christentum etwas Bleibendes, worauf sich die Unantastbarkeit und die Würde des Menschen stützen. Zulehner: "Die europäische Geschichte ist christlich, aber auch jüdisch und hellenistisch. Diese großen Ströme, die sich verbunden haben, schufen eine Erfolgsgeschichte. Dazu gehören das Bildungssystem, die gewaltigen Erfolge im sozio-ökonomischen wie auch im sozialstaatlichen Bereich. Das ist natürlich nicht nur im Christentum möglich, aber der Nährboden für eine solche elaborierte Menschlichkeit, persönlich wie sozial, hat faktisch konkrete christliche Vorgeschichten."

Europas Bildungssystem gäbe es nicht ohne den heiligen Benedikt von Nursia, die Gesundheitssysteme nicht ohne die Hospize des Mittelalters. Zulehner: "Ich als Christ bin froh, dieser Tradition anzugehören."