Predigt zum Gedenkgottesdienst Reichskristallnacht Rankweil November 2008

Lk 10, 25-28

Wir sehen vor uns die Symbole: die Armbinde mit dem Judenstern, das Buch mit den Namen der Gefallenen, die Briefe mit der Todesnachricht, die Metallurne, den Stein für die Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter und den Stacheldraht.

Inmitten dieser Symbole steht die Osterkerze, das wichtigste Zeichen christlicher Hoffnung. Dieses Bild fordert meines Erachtens auf, still zu werden, zu schweigen. Wir müssen es in die Seele nehmen, beweinen und bewahren.

Dieses Bild führt uns mitten hinein in die schwarze Novembernacht und die menschenverachtende Zeit des Nationalsozialismus.

Eine Frage, die beschäftigt, ist die Frage der Schuld. Warum konnte in einer christlichen Welt so etwas passieren?
War es die Angst der Menschen vor der Folter, die viele davon abgehalten hat, gegen das schreiende Unrecht der damaligen Zeit aufzubegehren.
Oder waren die Menschen damals tatsächlich so ideologisch verblendet, dass sie glaubten, was das Regime ihnen vorgegaukelt hat?
Oder war es einfach die Bequemlichkeit, die so viele zu Mitläufern oder gar zu Mittätern werden ließ?

Es steht uns fern, als Nachgeborene über einzelne Menschen damals endgültig richten zu wollen.

Mich hat ein Gespräch mit Viktor Frankl sehr beeindruckt (er war während meiner Psychotherapieausbildung unser Lehrer), der selber im Konzentrationslager war, er sagte immer: Es gibt keine kollektive Schuld. Es gibt, wenn überhaupt, nur persönliche Schuld im Blick auf die Geschehnisse der damaligen Zeit. Schuld von Einzelnen, Christen und Nicht-Christen, Klerikern und Laien usw.

1.Unsere Aufgabe ist nicht, Schuld zu sprechen oder freizusprechen, ich glaube, unsere Aufgabe ist die Erinnerung.
Erinnerung ist das Gegenteil von Gleichgültigkeit.

A. Wir müssen alles tun, damit nicht Gleichgültigkeit Platz greift. Erinnerung ist auch ein geistlicher Prozess. Erinnerung hat eine geistliche Kraft. Wer sich des Vergangenen nicht erinnert, ist verurteilt, es zu wiederholen: im persönlichen Leben, aber auch im Leben einer Gesellschaft. Ein vergessener Holocaust führt zu neuer Grausamkeit. Ein vergessenes Tschernobyl führt zu neuen Katastrophen.

Wir müssen kämpfen gegen die Gleichgültigkeit der Menschen, liebe Freunde.
„Gib uns die Gabe des Erinnerns, Gott. Gib uns die Gabe der Tränen. Gib uns die Gabe des Menschseins.“, betet D. Sölle.

B. Und dann ist da für viele Menschen – auch für mich – noch eine zweite große  Frage, eine Glaubensfrage : Wo war Gott? Warum hat er geschwiegen. Darf man nach Auschwitz überhaupt noch von Gott reden?

Elie Wiesel, jüdischer Religionsphilosoph, protestiert in vielen seiner Schriften gegen einen Gott, der nur gleichgültig zuschaut. Mich berührt eine Erzählung, die ich einmal bei Elie Wiesel gelesen haben.

Die Nazis haben im Konzentrationslager, wenn z. B. einer geflüchtet ist, kollektive Strafen verteilt. Die Leute mussten z. B. zu zehnt abzählen, und jeder Zehnte wurde aufgehängt, die anderen mussten zuschauen. Und bei einem solchen Ereignis/Rapport hing auch ein Kind am Galgen. Und ein Mitgefangener fragte bebend: Wo ist Gott? Einer antwortete ihm: Schau. Er hängt dort am Galgen.

Erinnerung aus christlicher Sicht geschieht in der Grundüberzeugung, dass Gott nicht irgendwo draußen ist, sondern wie Christus am Kreuz – mitten drin ist, selbst im tiefsten Leid, im tiefsten Unrecht seinen Platz hat. Sonst könnten wir dieses Leid nicht ertragen. Sonst wäre Erinnern ohne Hoffnung.

Jesus identifiziert sich mit den Gekreuzigten aller Zeiten.
Das ist das eine – die geistliche, die heilende Kraft der Erinnerung, die an diesem Tag heute so wichtig ist.

2. Das zweite ist, wir erinnern uns nicht um des Erinnerns willen, sondern wir erinnern uns für die Zukunft.

Ich möchte Eure Aufmerksamkeit noch einmal auf die Frage der Pharisäer richten.
Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Dann kommt diese Antwort: die Liebe zu Gott, die Liebe zum Nächsten, zu Dir selbst.

Wenn wir einfach diese Liebe zum Nächsten heute etwas herausnehmen, dann kommt man in solchen menschenverachtenden Situationen immer wieder auf Menschen, die versuchen im Innersten aus diesem christlichen Geist heraus zu leben. Ich denke an mutige Persönlichkeiten wie Provikar Lampert, Caroline Rädler, Pater Franz Reinisch, Maria Stromberger, den Engel von Ausschwitz, oder Ernst Volkmann, die diese Haltung des barmherzigen Samariters teilweise sogar mit dem eigenen Leben bezahlen mussten. Die Stimmen von Humanität und Nächstenliebe sind auch im Angesicht des schlimmsten Abgrundes der Unmenschlichkeit nie ganz verstummt. Gott sei Dank!

Ich habe die große Freude, Franziska Jägerstätter persönlich zu kennen. Und Franziska Jägerstätter erzählte einmal, dass Franz bei Bischof Fließer war. Er hat ihm seine Gewissensfragen gestellt, wie er sich verhalten soll angesichts seines bedrohten Lebens, falls er den Wehrdienst verweigerte. Und er hinterließ ja eine Frau mit kleinen Kindern.

Und dann ist er heimgekommen von diesem Gespräch mit dem damaligen Bischof von Linz und hat der Franziska gesagt: Der traut si a net – der getraut sich auch nicht. Der Bischof sagte später, er habe geglaubt, Jägerstätter sei ein Nazi-Spitzel.

Es ist sicher ein schwerer Punkt unserer Geschichte, dass die offizielle Kirche des deutschen Reiches zu den Verbrechen des Pogroms am 9. November 1938 geschwiegen hat, obwohl es keinen Zweifel daran gab, dass sie die nationalsozialistische Rassenideologie klar ablehnte. Die Gründe waren unterschiedlich. Die Kirche selbst stand auch unter großem und steigendem Druck. Es war sicher auch das Bemühen, eine weitere Eskalation des Kirchenkampfes zu vermeiden.
Und dennoch, was zeigt uns Franz Jägerstätter? Er sagt: Höre auf die Stimme des Gewissens und sei mutig.

Papst Johannes Paul II. hat gesagt, dass die Vergangenheit ein Auftrag ist für die Zukunft. Was ist denn dieser Auftrag für heute?
Wo schauen wir heute weg, wo wir hinschauen müssten, wo schweigen wir heute, wann wir reden müssten?

Ein kleines Beispiel, das mich persönlich beeindruckt hat, war bei der Gloria- Kirchenmesse die Präsentation des Aussätzigenhilfswerkes. 50 Jahre. Menschen sind verstümmelt von Lepra. Physisch kann diese Krankheit gestoppt werden, das viel Schlimmere ist der soziale Tod: keine Umarmung, weil die Angst vor Ansteckung da ist. Kein Blick, weil der Anblick so hässlich ist. Menschen werden in Leprakolonien getrieben, das ist natürlich lange her. Und Jesus – im Gleichnis des barmherzigen Samariters – überschreitet Regeln, durchbricht Barrieren, weil er sich in einer großen Empathie den Menschen zuwendet. Er schenkt einen lieben berührenden Blick, er umarmt und berührt, er durchbricht diese kalte Mauer der Isolation, des sozialen Todes.

Nur ein Beispiel, wo wir als Christinnen und Christen aufstehen dürfen und aufstehen müssen.

Und jetzt könnte ich die Liste unendlich verlängern: die ungeborenen Kinder, die alten und kranken Menschen, die Sterbenden, die von der Euthanasie bedroht sind, Asylanten. Das größte Massenvernichtungsmittel aller Zeiten, der Hunger.

Liebe Freunde, wie werden in 70 Jahren unsere Nachkommen über uns reden, am 9. November 2078?
Ich möchte nicht moralisieren, doch ich glaube, wir brauchen Zivilcourage, wir brauchen Mut und wir müssen die Stimme unseres Gewissens hören und zu ihr stehen.

Diese zwei Gedanken möchte ich Ihnen heute mitgeben:

1.    Erinnerung ist eine geistliche Aufgabe. Sie hat eine heilende, versöhnende Kraft. Erinnerung ist das Gegenteil von Gleichgültigkeit. Erinnerung ist die Voraussetzung für eine positive Zukunft.

2.    Diese Erinnerung soll uns Mut machen, heute Menschen mit Zivilcourage zu sein, die entschieden jede Form des sozialen Todes, jede Form der Ungerechtigkeit ablehnen und sich unabhängig von menschlichen Unterschieden den Notleidenden zuwenden.

Lassen Sie mich mit einem Gedicht von Rose Ausländer schließen.

Wer könnte atmen ohne
Hoffnung,
dass auch in Zukunft
Rosen sich öffnen,
ein Liebeswort die Angst
überlebt.

Dr. Benno Elbs
Generalvikar