Neben vielen anderen internationalen Auszeichnungen gewann „Son of Saul“ des ungarischen Regisseurs László Nemes 2015 den Großen Preis der Jury in Cannes und 2016 den Oscar für den besten nicht englischsprachigen Film. Darüber hinaus hat er die Kritik gespalten wie kaum ein anderer.

Klaus Feurstein

Die Kamera wirft in „Son of Saul“ einen speziellen Blick auf den jüdischen Häftling Saul Ausländer und sein Schicksal als Vernichtungsgehilfen der Nazis im KZ Auschwitz. Während des ganzen Films ist fast nur der Protagonist scharf und meist in Großaufnahmen zu sehen, während die Außenwelt unscharf im Hintergrund verschwimmt oder außerhalb des Bildrahmens ganz verschwindet. Der Kritiker Frank Schnelle (epd Film 3/16) findet diese Art der Inszenierung neu und einzigartig. Obwohl die ganze Umwelt vorhanden sei, mache die Kamera mit ihrem konsequenten Verharren auf Saul die Dinge fast unsichtbar, was dem Publikum den Anblick konkreter Gewalt weitgehend erspare. Davon bekommt man allerdings auf der Tonspur umso mehr zu hören: Schüsse, Schreie, gebrüllte Befehle und das verzweifelte Trommeln der Gefangenen gegen die verschlossenen Türen. Diese Art von Film lasse den Horror der Nazi-Vernichtungsmaschinerie konkreter erfahren als etwa Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ (1993) oder Roberto Benignis „Das Leben ist schön“ (1997). Bei Nemes sei es „ein wahrhaft zermürbender, aufwühlender und niederschmetternder Prozess, in diese Welt einzutauchen … Gerade darin liegt seine ungeheure Kraft: an die unvorstellbare Grausamkeit des KZs nicht bloß zu erinnern, sondern die Bedingungen - die Beklemmung, die Panik, die unfassbare Gewalt - mit Hilfe einer ganz eigenen Filmsprache beinah physisch erfahrbar zu machen“. (epd Film)

Nemes hat für Frank Schnelle also die richtige Form gefunden: Jegliche Unterhaltung, jeglichen Sensationseffekt zu vermeiden und in der ausschließlichen Fokussierung auf den Protagonisten den Zuschauenden mitleiden zu lassen - der Film müsse durchgestanden werden. So müsse ein Film über die Schoah sein.

Voyeurismus und Größenwahn
Ganz anders sehen das die Kritiker der „ZEIT“, Ursula März (10.3.2016), und des „profil“, Stefan Grissemann (21.3.2016). Sie werfen dem Film Voyeurismus vor. Mit der Bildreduzierung auf enge Ausschnitte mute Nemes dem Film eine „fatale Perspektive zu: die durchs Schlüsselloch. Er drängt den Zuschauer in die Rolle des voyeuristischen Guckers …“ (ZEIT)
Der Horror von Auschwitz sei eigentlich nicht darstellbar, gibt auch Nemes zu, der selber Angehörige im KZ verloren hat - „deshalb zeige er das Geschehen eben nur in Ausschnitten. Mit dem begrenzten Blick schafft er das Problem der Darstellbarkeit aber nicht ab“. (profil)
Und mit der Verlagerung des Horrors auf die Tonebene sei es doch ein Film mit Suspense, Spannung und Nervenkitzel geworden. Grissemann bezichtigt den Regisseur des Größenwahns und des Narzissmus, wenn dieser meint, mit seiner Art der Inszenierung könne er das Grauen fühlbar, verstehbar und fassbar machen.
Elie Wiesel, selber Überlebender der Schoah und Autor eines Buches über Auschwitz („Die Nacht“), behauptet, ein Roman über Auschwitz sei entweder kein Roman oder er handle nicht von diesem (Un-)Ort. Analog dazu bezeichnet Grissemann „Son of Saul“ als einen (virtuos inszenierten) Thriller - von Auschwitz könne er deshalb aber nicht handeln.

Kontroversen
Die künstlerische Veranschaulichung der Judenvernichtung hat schon früher zu absolut kontroversen Positionen geführt. Am bekanntesten ist die Kritik Claude Lanzmanns an Spielbergs „Schindlers Liste“.

Die Story des Films

Saul Ausländer, Mitglied eines jüdischen Sonderkommandos, muss im Vernichtungslager die Menschen in die Gaskammern führen und ihre Leichen entsorgen. Dass ein Junge, in dem er seinen Sohn zu erkennen glaubt, von den Nazi-Ärzten ausgeweidet und dann verbrannt werden soll, will er mit allen Mitteln verhindern und ihn nach traditionell jüdischem Ritual beerdigen. Während seine Mitgefangenen einen Aufstand planen, will er mit dem Versuch, den Leichnam des Kindes in Würde zu bestatten, lediglich ein Zeichen der Ehrfurcht und des Respekts gegen die Menschenverachtung der Nazis setzen.

Bilderverbot im Kino?

Als Steven Spielberg 1993 die Schoah mit der Judenretter-Geschichte „Schindlers Liste“ in die Kinos brachte, landete er einen gewaltigen Erfolg. Der französische Filmemacher Claude Lanzmann, jüdischer Abstammung und Widerstandskämpfer gegen die Nazis in der Resistance, kritisierte ihn aber heftig. Man könne keinen Film über die Schoah drehen, in dem gezeigt wird, wie ein Deutscher 1500 Juden rettet. Das werfe ein völlig falsches Bild auf die Realität der fast vollständigen Vernichtung eines Volkes. Aber Lanzmann lehnt nicht nur die spezifische Machart von Spielbergs Film ab, sondern generell den Anspruch des Erzählkinos, die Judenvernichtung nachbilden zu können.

Lanzmanns Position gilt heute manchen als zu einseitig und überzogen. Es brauche die Darstellung der Schoah, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Lanzmann hat selber zwölf Jahre an einem Film namens „Shoah“ (1985 in die Kinos gekommen) über die Judenvernichtung gearbeitet, aber dort gibt es keine Spielszenen, ja nicht einmal dokumentarisches Material. In über neun Stunden zeigt er ausschließlich Menschen aus den Konzentrationslagern und lässt sie sprechen.

Ein Film für die Masse
Das Problem bleibt, dass man mit dieser Art der Darstellung nie ein größeres Publikum erreichen kann. Der erste Film zum Thema Judenvernichtung, dem dies gelang, war die 1979 in Deutschland ausgestrahlte Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“. Der Schriftsteller Elie Wiesel bemängelte, der Film sei eine aus kommerziellem Kalkül produzierte Seifenoper und eine „Beleidigung für die, die umkamen, und für die, die überlebten“. Aber die vierteilige Serie erreichte zwischen zehn und fünfzehn Millionen Zusehende. Und „Holocaust“ wurde, anders als viele Dokumentationen über das nationalsozialistische Deutschland, zu einem Medienereignis, das schon vor der Lanzmann-Spielberg-Debatte eine heftige öffentliche Diskussion über die dargestellten Ereignisse auslöste. Die Fernsehserie wurde als „medien- und erinnerungsgeschichtliche Zäsur“ bezeichnet, ja sie habe sogar bewirkt, dass der Bundestag 1979 die Verjährungsfrist für Mord aufhob. Der Politologe Peter Reichel bezeichnete die Ausstrahlung der Fernsehserie als einen Meilenstein in der Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik, sie markiere „den Beginn der Bereitschaft, nun auch eines Massenpublikums, sich mit der NS-Vergangenheit überhaupt auseinanderzusetzen“. (Peter Reichel: Erfundene Erinnerung)

Erst mit der Ausstrahlung von „Holocaust“ etablierte sich in Deutschland die Nutzung dieses Begriffs für die von den Nazis als Endlösung bezeichnete Vernichtung der Juden. Davor sprach man vom „Völkermord an den Juden“. Der Begriff Holocaust aus der jüdisch-christlichen Tradition bedeutet „Brandopfer“ und wurde wegen des möglichen Missverständnisses, es handle sich dabei um ein religiöses Opfer, weitgehend durch den Begriff Schoah (Katastrophe) ersetzt.

Benignis Tragikomödie 
1997 löste Roberto Benigni mit seinem „Das Leben ist schön“ erneut eine Kontroverse darüber aus, wie man die Judenvernichtung darstellen dürfe. „Der als Loblied auf die Kraft der Fantasie und den menschlichen Über-Lebenswillen angelegte Film beginnt als beschwingte Romanze mit märchenhaften Untertönen und endet in einer bitter-absurden Tragödie, in der das Lachen zum schmerzhaften Reflex gefriert.“ (Lexikon des internationalen Films) Auch wenn der Versuch, mit den Mitteln des Tragisch-Komischen an den Holocaust zu erinnern, problematisch sei, wurde der Film überwiegend für seine Sensibilität, Ernsthaftigkeit gelobt und als ein bewegender Versuch, auf besondere Weise Kino-Bilder für die unverbrüchliche Würde der Holocaust-Opfer zu finden, bezeichnet.

Der neueste Schoah-Film
Zuletzt ist mit dem vor einigen Wochen ins Kino gekommenen „Son of Saul“ die Debatte über die Darstellbarkeit der Schoah erneut aufgeflammt (siehe letzte Ausgabe des KirchenBlattes). Der inzwischen 90-jährige Claude Lanzmann hat sich wieder zu Wort gemeldet, dem neuesten Spielfilm über die Judenvernichtung seinen Segen gegeben und dessen Regisseur als seinen Sohn bezeichnet. Die Debatte wird damit aber nicht beendet sein. Und die Versuche, einen Weg der filmischen Darstellung zu finden, auch nicht.

(aus dem KirchenBlatt Nr. 15 vom 14. April 2016 und Nr. 16 vom 21. April 2016)