Wieder einmal traf im internationalen Wettbewerb von Locarno die kirchlich-ökumenischen Jury die bessere Wahl als die Hauptjury. Zumindest, wenn man sie mit den Reaktionen des Publikums und dem, was unter den Filmjournalisten vor Ort gehandelt wurde, vergleicht.

Bild: David Lynch, diesmal als Schauspieler und Hauptdarsteller Harry Dean Stanton in „Lucky“

Klaus Feurstein

Der Goldene Leopard

Die Hauptjury vergab den Goldenen Leoparden überraschend an den chinesischen Dokumentarfilm Mrs. Fang von Wang Bing. Darin zeigt er das Sterben einer an Alzheimer erkrankten Frau. In quälend langen Einstellungen ist meist nur das ausdruckslose Gesicht der Todkranken zu sehen. Ursprünglich wollte Wang im Film nur die Sterbende, ihre Familie und Nachbarn, die sie auf ihrem Leidensweg begleiten, auftreten lassen. Als er ihr Dorf erreichte, entschied er sich aber, auch das alltägliche Leben in der Umgebung filmisch einzufangen, darunter Szenen der lokalen Fischer bei ihrer nächtlichen Arbeit. Wang porträtiert überwiegend gewöhnliche Menschen, deren Stimmen sonst nicht zu hören und deren Bilder nicht zu sehen sind.
Mrs. Fang wurde im Juni 2017 im Rahmen der Kunstausstellung documenta 14 in Kassel uraufgeführt und ist von seiner Machart dort auch eher beheimatet als auf einem Filmfestival.

Der Preis der Ökumenischen Jury: Lucky von John Carrol Lynch

Statt einfach einen sterbenden Menschen vor der Unausweichlichkeit des Todes mit starrer Kamera zu beobachten, erzählt Lucky die originelle und humorvolle Geschichte des gleichnamigen 90-Jährigen in einer amerikanischen Kleinstadt am Rande der Wüste, der noch einmal sein Leben in die Hand nimmt und ihm eine bemerkenswerte Wendung gibt. Großartig gespielt wird er vom bekannten Schauspieler Harry Dean Stanton (der in Martin Scorseses „Die letzte Versuchung Christi“ den Paulus verkörperte). Maßgeschneidert auf und speziell für ihn wurde das Drehbuch geschrieben und so ist es auch ein Film über den Menschen H. D. Stanton geworden, eine Hommage an den großen Schauspieler, die auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass David Lynch eine kleine Rolle in Lucky übernahm.
Der Regisseur zeigte sich überrascht und erfreut zugleich, dass gerade die kirchliche Jury einen Streifen mit einem atheistischen Protagonisten auszeichne und attestiert ihr eine große Offenheit für Anders-Glaubende.
Der Film zeigt eindrücklich, berührend und oft sehr witzig, wie sich der nihilistische Zyniker noch in hohem Alter zu einem menschenfreundlichen Mann entwickelt, ohne etwas von seiner Selbstbestimmung aufzugeben. Dass Lucky, obwohl zornig, ängstlich und alleine, nach und nach andere zu lieben lernt, deutet der Jurypräsident Joachim Valentin als Ausdruck einer dem Leben zugrundliegende Spiritualität. Deshalb und wegen der hohen künstlerischen Qualitäten erhielt der Film den kirchlichen Preis. Auch vom Publikum wurde er enthusiastisch aufgenommen.

Der Regiepreis

Große Ratlosigkeit hinterließ indessen der französische Beitrag 9 doigts (neun Finger), der den Preis für die beste Regie erhielt. In beeindruckenden Schwarzweißbildern, die die Faszination des Regisseurs für den Film-Noir zeigen, will er möglicherweise die in diesem Genre oft behauptete Fatalität des menschlichen Lebens zu einer Parabel über existenzielle Sinnlosigkeit ausweiten, indem er sowohl die Geschichte als auch die Dialoge ins Leere laufen lässt. Man kann mindestens darüber spekulieren.

Nicht prämierte Highlights

Einen Preis verdient hätte sich der Wettbewerbs-Film Wajib von Annemarie Jacir. Indem sie mit der Kamera dem Vater und Bruder einer Braut folgt, wie sie allen Verwandten und Bekannten die Hochzeitseinladung persönlich überbringen, gewinnen die Zuschauer Einblick in das Alltagsleben palästinensischer Bewohner von Nazareth. Am Beispiel des Sohnes, der wegen der aussichtslosen Situation in seiner Heimat nach Italien ausgewandert ist, und des Vaters, der sich mit den Mächtigen arrangieren muss, um bleiben zu können, werden zwei gegensätzliche Positionen im palästinensischen Lager des Nahostkonflikts erörtert, und wie nebenbei fließt dabei Kritik an der israelischen Politik ein.

Außerhalb des Wettbewerbs stieß der Dokumentarfilm The Venerable W. des berühmten Regisseurs Barbet Schroeder, der auch in Cannes gezeigt wurde, auf großes Interesse. Porträtiert wird der „ehrwürdige“ Wirathu, ein angesehener und einflussreicher buddhistischer Mönch in Myanmar. Schroeder entlarvt ihn aber als rassistischen, islamophoben Hassprediger, der zu Gewalt gegen die Moslems aufruft, um die eigene Rasse (!) und Religion vor deren angeblicher Überflutung zu retten. Daneben kommen Journalisten zu Wort, die das Phänomen kommentieren, sowie andere Vertreter des Buddhismus, für die die einzige Antwort ihrer Religion auf Hass die Liebe ist und die deshalb die Bewegung um Wirathu ablehnen.
Als kleines Juwel, am Rande des Festivals ebenfalls außer Konkurrenz gezeigt, erwies sich die Dokumentation Nothingwood der Deutschen Sonja Kronlund, ein Porträt des Filmemachers Salim Shasheen. „Es gibt Hollywood, Bollywood und Nothingwood, das ist der Film in Afghanistan, weil es dafür weder Geld, noch Studios oder politisch-künstlerische Strukturen gibt“, sagt der Regisseur und Produzent von über hundert afghanischen Filmen, der außerdem in allen die Hauptrolle spielt und in seiner Heimat als Star gilt. Es ist äußerst amüsant, diesem originellen Tausendsassa zuzuschauen, der ohne Budget und professionelle Schauspieler, einzig und allein mit ansteckender Leidenschaft seine Trash-Filme dreht. Die Dokumentation bietet eine völlig ungewöhnliche Perspektive auf ein Land, von dem sonst nur unter dem Aspekt der Gewalt und Unterdrückung berichtet wird, und ein großes Vergnügen für die Zuschauer.

Der beste Piazzafilm

Ein Film, der – anders als die meisten Wettbewerbsfilme – sicher im Herbst ins Kino kommt, wurde abends auf der großen Piazza gezeigt und mit dem Prix Public bedacht. Erzählt wird in The Big Sick die (großteils) wahre Migranten-Geschichte des pakistanischen Hauptdarstellers Kumal Nanjiani, der auch das Drehbuch schrieb: lustig und ernsthaft zugleich, eine Screwball-Komödie, die die Hindernisse für die Liebenden aus den unterschiedlichen Vorstellungen über Ehe der pakistanisch-islamischen Eltern des Bräutigams und der amerikanisch-liberalen der Braut bezieht. Mit seinen pointierten Dialogen, der amüsanten Situationskomik und der komplexen und hintergründigen Geschichte ist der Film als aktueller Beitrag zur Migrationsthematik unbedingt zu empfehlen!

Gewinner des Internationalen Wettbewerbs

Goldener Leopard: Mrs. Fang von Wang Bing, China
Goldener Spezialpreis der Jury: Good Manners von Juliana Rojas, Marco Dutra, Brasilien
Leopard für beste Regie: F.J. Ossang für 9 doigts, Frankreich
Preis der Ökumenischen Jury: Lucky von John Carrol Lynch, USA
Lobende Erwähnung der Ökumenischen Jury für Dragonfly Eyes von XU Bing, China  und Winter Brothers von Hlynur Palmason, Dänemark
Beste weibliche Darstellerin: Isabelle Huppert in Madame Hyde, Frankreich
Bester männlicher Darsteller: Elliott Crosset Hove in Winter Brothers, Dänemark
Ein Interview mit Joachim Valentin, dem Präsidenten der Ökumenischen Jury, finden Sie hier: zum Interview »

Die Ökumenische Jury
verleiht seit 1973 ihren Preis an Filmschaffende, denen es gelingt, ihr Publikum für religiöse, menschliche oder soziale Werte zu sensibilisieren. Sie befragt die Visionen der Filmschaffenden nach einem Sinn für Gerechtigkeit, Frieden und Respekt sowie nach spirituellen Dimensionen.
Der Preis ist mit CHF 20 000.– dotiert und an die Filmdistribution in der Schweiz gebunden. Das Preisgeld wird von den evangelisch-reformierten Kirchen und der römisch-katholischen Kirche der Schweiz zur Verfügung gestellt. Xenix-Film bringt «Lucky» im Dezember 2017 in die Schweizer Kinos.