Man stelle sich vor, ein neues Jahr beginnt und der Kalender ist leer. Mit welchen Terminen, Ereignissen und Erfahrungen man ihn sich füllen könnte, um am Ende des Jahres auf ein gutes Jahr zurückblicken zu können, diese Frage muss jede/r für sich beantworten. Denk­anstöße dazu aber gab DDDr. Clemens Sedmak zum Jahreswechsel in Feldkirch.

Um den Vortrag von DDDr. Clemens Sedmak nachzuhören, bitte rechts ins Bild klicken

Der Titel jenes Vortrags, den Clemens Sedmak beim Feldkircher Neujahrsempfang hielt, lautete ganz pragmatisch „Rezepte für ein besseres Leben – Humanismus als Quelle für eine zukunftsfähige Gesellschaft”. Und wer genau hinhörte, der nahm nicht nur theoretische Rezepte, sondern auch viele Fragen mit, die es wert sind, einmal gestellt zu werden. Genau als solche verstehen sich auch die nun folgenden Ausschnitte, in denen Clemens Sedmak über Wünsche für ein gutes Leben und die Briefe zweier Taufpaten spricht.


„Wenn man am Anfang eines Jahres den leeren Kalender vor sich hat, dann blättert man den leeren Kalender durch und wird fast zwangsläufig philosophisch. Ich glaube, sogar wirtschaftssinnige Menschen werden philosophisch, wenn sie einen leeren Kalender durchblättern. Denn du weißt, am Ende des Jahres wird der jetzt leere Kalender mit Erinnerungen, Erfahrungen gefüllt sein. Und du weißt, wenn du die Tage durchgehst, du wirst auch an deinem Sterbetag vorbeikommen. Das kann der 12. März sein. Das kann der 27. September sein. Muss nicht im Jahre 2014 geschehen. Aber einen Sterbetag haben doch die meisten Menschen und gerade die, die glauben, dass sie keinen haben, haben einen solchen. (...) Wenn Sie die Möglichkeit hätten, sich die Zutaten für ein gutes Jahr zusammenzusuchen, was würden Sie sich zusammenbrauen? Sie würden sicher nicht nur gute Erfahrungen zusammen nehmen, sie würden sicher auch leidvolle Momente hinzunehmen wollen, denn ein gutes, tiefes, erfülltes Jahr hat auch mit Schwierigkeiten zu tun, denen wir uns stellen. Sie würden sicherlich auf Begegnungen mit Menschen nicht verzichten wollen. Denn ein gutes Jahr hat  mit Kontakten, Begegnungen zu tun und vielleicht auch damit, dass sie am Ende des Jahres einige Menschen kennengelernt werden haben, die sie am Anfang des Jahres noch nicht kannten.“

Ich wünsche dir

„In der Philosophie gibt es zumindest zwei Möglichkeiten, sich zu fragen, was ist ein gutes Leben, was ist ein gutes Jahr? (...) Ich möchte Ihnen für diese Überlegung für ein gutes Jahr zwei Beispiele geben.
Dietrich Bonhoeffer war, wie sie alle wissen, seit April 1943 inhaftiert, hatte am Anfang immer geglaubt, das ist nur eine Sache von wenigen Wochen oder Monaten und musste dann einsehen, als es Weihnachten 43, Ostern 44, vielleicht sogar Silvester 44 wurde, er wird vermutlich nicht mehr als freier Mann das Gefängnis verlassen und so war es auch. Er wurde in den Apriltagen des Jahres 1945 hingerichtet. Und Dietrich Bonhoeffer ist im Gefängnis Patenonkel geworden, Taufpate eines gewissen Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge. (...) Aus dem Gefängnis schrieb Dietrich Bonhoeffer eine Taufpredigt für sein Patenkind, den kleinen Dietrich Wilhelm Rüdiger. Und in diese Taufpredigt packte er die guten Wünsche für ein gutes Leben seines Taufpatenkindes hinein. Es waren vor allem drei Dinge, die er seinem Patenkind wünschte:
,Erstens wünsche ich dir feste Verwurzelung. Ich wünsche dir eine feste Verwurzelung in dem guten Elternhaus, das du hast, sodass es ein Schutzwall gegen all die bösen Mächte sein soll, die uns heute bedrohen. Ich wünsche dir Verwurzelung.‘
Oder anders gesagt: Ich wünsche dir Heimat.“

Verantwortung tragen

„Das zweite, was er seinem Patenkind auf den Weg, den er wahrscheinlich nicht mit ihm teilen konnte, mitgeben wollte, war der Wunsch nach Verantwortungsbewusstsein. Verantwortungsgefühl, nach einem Sinn dafür, dass wir Verantwortung für das, was wir tun und für unser Leben tragen.
Und Dietrich Bonhoeffer beklagte sehr leise, dass es viele Menschen in dieser Zeit, 1945, gab, die dieses Verantwortungsgefühl nicht in der Fülle hatten, wie er es seinem Patenkind wünschen würde. (...) Und das dritte, was Dietrich Bonhoeffer seinem Patenkind gewünscht hat, ist die Bereitschaft zur Tat. Die Bereitschaft nicht nur zu denken – für einen Philosophen eine erschreckende Vorstellung – sondern die Bereitschaft auch etwas zu tun. Das Heft des Handelns gestaltend in die Hand zu nehmen.
Und das ist eine relativ lange Taufpredigt, die darauf hinausläuft: Lieber Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge, lebe dein Leben, sodass du es wirklich lebst und sodass du es auf jene Weise lebst, wie nur du es leben kannst. Verwurzelung, Verantwortungsgefühl und Bereitschaft zur Tat.“

Die Bereitschaft zur Höhe

„Mein zweites Beispiel: Ein Brief vom 23. Januar 1945, fast noch berührender. Denn dieser Brief stammt vom Jesuitenpater Alfred Delp, der zehn Tage zuvor zum Tode verurteilt wurde und eine Woche vor seinem Tod einen Brief an sein Patenkind Alfred Sebastian Kessler geschrieben hat. Auch Alfred Delp war im Gefängnis, seit Ende Juli 1944 und wusste, dass er nicht mehr lebend aus dem Gefängnis kommen würde. Und am 23. Januar war es schon zehn Tage alt, das Urteil. Er wird sterben.
Und angesichts seines eigenen Todes schreibt er seinem Patenkind, dem neugeborenen Alfred Sebastian Kessler, einen Brief und gibt ihm Wünsche für das gute Leben mit und auch er wünscht ihm vor allem dreierlei.
Er wünscht ihm helle Augen. Helle Augen im Sinne von Urteilskraft, Urteilsvermögen und die Fähigkeit, das Gute und das Böse voneinander unterscheiden zu können. Auch einen wachen Blick. (...) Das zweite, was er Alfred Sebastian Kessler wünscht, sind starke Lungen. ,Starke Lungen, denn wir leben in einer Zeit, in der wir uns aus den Niederungen erheben müssen, um nach der Höhe zu streben. Und dafür brauchst du starke Lungen.‘
Starke Lungen oder wie Nietzsche einmal gesagt hat: ,Um einen Überblick über eine Stadt zu haben musst du die Stadt hinter dir lassen und auf einen Turm steigen‘. Und dazu brauchst du starke Lungen.
Das wünscht Alfred Delp seinem Patenkind.
Und das dritte, was er seinem Patenkind wünscht, ist - zu den starken Lungen zugehörig - die Bereitschaft Höhe zu gewinnen und die Fähigkeit, Höhe auszuhalten. Höhe nicht im Sinne von Arroganz oder Eitelkeit, sondern Höhe im Sinne von Überblick zu haben, sich ruhig der Dynamik der Masse entziehen zu können und etwas aus der Distanz sich überlegen zu können, was ist mein nächster Schritt.
Helle Augen, starke Lungen und die Fähigkeit und Bereitschaft zur Höhe sind die Dinge, die Alfred Delp seinem Patenkind wünscht.
Ein zweiter Weg in der Philosophie, sich über ein gutes Jahr Gedanken zu machen, besteht darin, sich zu fragen, wie möchtest du am Ende des Jahres das Jahr gelebt haben?“

Fünf Dinge

„Das ist eine Frage, die du natürlich auch auf dein ganzes Leben richten kannst. Wie möchtest du am Ende deines Lebens rückblickend dein Leben gelebt haben?
Und viele von Ihnen haben in den Buchhandlungen das Buch von Bronnie Ware gesehen – einer australischen Hospizkrankenschwester: ,Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen‘.
Sie hat mit Menschen in deren letzter Lebensphase gearbeitet. sie begleitet und da hat sich auch die Gelegenheit ergeben, die Frage zu stellen: ,Nun bist du aufgrund deiner fortgeschrittenen Krankheit am Ende deines Lebens angekommen, was bedauerst du eigentlich rückblickend?‘ (...) Und Bronnie Ware hat fünf Dinge genannt. Ich bereue es, hat sie gehört, dass ich mich zu wenig um meine Freundschaften gekümmert habe. Ich bereue es, dass ich zu viel gearbeitet habe. Ich bereue es, dass ich nicht den Mut hatte, die Person zu sein, die ich eigentlich bin. Ich bereue es, dass ich meine Gefühle nicht authentisch ausgedrückt habe. Und ich bereue es, dass ich nicht den Mut hatte, mich ein bisschen mehr um mein Glück zu kümmern, mich ein bisschen tiefer zu fragen, was ist eigentlich ein gutes Leben für mich.
So möchte ich sie nur einladen als zweite philosophische Möglichkeit, am Anfang eines Jahres auf ein gutes Jahr zu blicken. Wie würden sie am Ende dieses Jahres das Jahr gelebt haben wollen?“