7,1 Milliarden Menschen leben derzeit auf der Erde. Bis 2050 soll die Weltbevölkerung laut aktuellen Studien auf 9,7 Milliarden Menschen ansteigen. Der Moraltheologe Johannes Müller nimmt zu Fragen rund um das Thema Bevölkerungswachstum Stellung.

zur Sache: "Population Boom"

Interview: Susanne Huber

Die Weltbevölkerung wächst rasant, viele ­sprechen auch von Überbevölkerung. Ist die Erde Ihrer Meinung nach überbevölkert?
Johannes Müller: Menschen sind ein wichtiger Bestandteil einer erfolgreichen Entwicklung. Und mehr Menschen sind im Allgemeinen erwünscht. Überbevölkerung gibt es im Grunde nicht. Aber es gibt Grenzen des Bevölkerungswachstums im Hinblick auf bestimmte Faktoren wie Nahrungsspielraum, vorhandene Ressourcen, Energiebedarf, ökologische Belastbarkeit oder die Beschaffenheit des natürlichen Lebensraums. Natürlich gibt es auch eine Grenze dafür, wie viele Menschen die Erde tragen kann. Wo die genau liegt, das kann man nicht so einfach sagen, weil wir nicht wissen, was noch an Fortschritten möglich ist. Aber wir können nicht verhindern, dass bis zum Jahr 2050 statt derzeit 7,1 Milliarden Menschen dann 9,7 Milliarden auf der Erde leben werden.

Dr. Johannes MüllerDr. Johannes Müller
ist Jesuit und emeritierter Professor für Sozialwissenschaften und Entwicklungspolitik an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München.
Der Moraltheologe wurde 1943 in Regensburg geboren und trat 1963 in den Jesuitenorden ein.  Er studierte Philosophie, Theologie, Soziologie und Ökonomie in München und Yogyakarta/Indonesien.
Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen u. a. Klimawandel und weltweite Armut.

Das bedeutet, diese Zahlen muss man ernst ­nehmen ...
Johannes Müller: Grundsätzlich bedeutet eine wachsende Bevölkerung, dass die vorhandenen Probleme der Welt wie Armut, Hunger oder Klimawandel noch schwieriger zu lösen sein werden. Dazu kommt, dass die begrenzten natürlichen Ressourcen bei einem Wachstum der Bevölkerung auf mehr Menschen verteilt werden müssen. Insofern ist das Bevölkerungsproblem nicht nur eine Frage der Zahl, sondern auch eine Frage des Lebensstils.

Was heißt das?
Johannes Müller: Die große Herausforderung ist, ein Zivilisationsmodell zu schaffen, das allen Menschen ermöglicht, unter menschenwürdigen Verhältnissen zu leben. Das ist natürlich eine Mammutaufgabe. Menschen in ärmeren Ländern verweisen zu Recht darauf, genauso leben zu wollen wie wir im Westen. Da besteht ein Nachholanspruch. Das Wohlstandsmodell der reichen Länder birgt aber ein großes Risiko in sich. Die durchschnittlichen Pro-Kopf-Zahlen für Schadstoffemissionen und für den Verbrauch von Energie liegen hier etwa zehnmal höher als in den Ländern des Südens. Es besteht also generell ein Verteilungsproblem zwischen Arm und Reich.

Wie könnte eine gerechte Verteilung aussehen?
Johannes Müller: Gerechte Verteilung heißt für mich gleiche Rechte für alle. Nehmen wir als Beispiel den CO2-Ausstoß pro Kopf. Ein Inder hat genausoviel Rechte auf CO2-Ausstoß wie ein US-Amerikaner. Aber im Unterschied zum Inder stößt der US-Amerikaner 50 oder 100 Mal so viel CO2 aus. Das bedeutet, dass der Westen ungeheuer zurückfahren muss und die armen Länder noch Spielraum nach oben haben. 

Zurückfahren – das stell ich mir schwierig vor ...
Johannes Müller: Das ist extrem schwierig. 2007, als der UNO-Weltklimabericht herausgegeben wurde, gab es noch viel mehr Bereitschaft in der EU, die Umweltprobleme anzugehen, während das im Moment u. a. durch die Eurokrise völlig in den Hintergrund gerückt ist. Das ist riskant und es bleibt zu hoffen, dass das wieder mehr auf die politische Agenda kommt. Auf internationaler Ebene ist ein gemeinsames Handeln für gemeinsame
Lösungen nötig. Ein wichtiger Punkt wäre z. B. die Energie. Ich war 2012 beim Umweltgipfel „Rio+20“ in Rio de Janeiro. Dort hat man gesagt, wenn in Deutschland die Umstellung auf alternative Energie gelingt, dann wäre das ein enorm wichtiger Beitrag, der zeigen würde, dass es auch in einem hochindustrialisierten Land weitergehen kann, ohne exzessiv auf Erdöl angewiesen zu sein. Das wäre ein Modell, das andere Länder übernehmen könnten. Das ist eine gravierende politische Entscheidung, deren Umsetzung derzeit mühsam ist.

Welche Länder sind besonders vom Bevölkerungswachstum betroffen?
Johannes Müller: Im Moment Afrika. Laut neuesten Zahlen der UNO ist Nigeria mit 173 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Afrikas – ein sehr großes Land, wo schon auch noch Platz ist. Bis 2100 soll dort die Einwohnerzahl auf 914 Millionen ansteigen. In Asien haben die Philippinen das höchste Bevölkerungswachstum. Die 90 Millionen Einwohner werden sich bis 2050 laut Studien verdoppeln. Das sind ungeheure Zahlen, die für die jeweiligen Länder eine große Herausforderung darstellen. Der Verlauf der Bevölkerungsentwicklung in den verschiedenen Ländern hängt immer von vielen spezifischen historischen, sozialen und kulturellen Bedingungen und Lebensumständen ab. Man muss immer im Blick haben, wo und was ganz spezifisch zu tun ist.

Können Sie da ein Beispiel geben?  
Johannes Müller: Auf der indonesischen Insel Java, die ungefähr so groß ist wie Süddeutschland, leben 130 Millionen Menschen. Sie ist mit über 1000 Einwohnern pro Quadratkilometer eines der bevölkerungsdichtesten Gebiete der Welt. Aber es gibt in Indonesien auch Regionen, wo es nur zehn Einwohner pro Quadratkilometer gibt wie in West-Papua. Die Regierung Indonesiens hat versucht, das Problem dieser ungleichen Bevölkerungsverteilung durch Umsiedlungen zu reduzieren. Das hatte allerdings zur Folge, dass nicht nur tropische Wälder abgeholzt wurden, sondern auch ethnische und kulturelle Konflikte entstanden sind mit der jeweiligen Bevölkerung vor Ort. In Indonesien gibt es ja Hunderte von verschiedenen Kulturen.

Was halten Sie von Familienplanung im Hinblick auf das Bevölkerungswachstum?
Johannes Müller: Grundsätzlich muss man sagen, dass eine Bevölkerungspolitik nur dann erfolgreich sein wird, wenn es gelingt, die Menschen ohne Zwangsmittel davon zu überzeugen, dass eine geringere Kinderzahl auch in ihrem eigenen Interesse liegt. Maßnahmen müssen immer den lokalen Verhältnissen angepasst werden. Wichtig ist dabei, auf die Situation der Menschen einzugehen, ihnen Zugang zu Gesundheits- und Erziehungseinrichtungen zu ermöglichen und sie am wirtschaftlichen Erfolg teilhaben zu ­lassen. Denn ein Rückgang des Bevölkerungswachstums allein garantiert keine menschenwürdigen Verhältnisse für alle Menschen. 

ZUR SACHE

„Population Boom“

Der österreichische Filmemacher Werner Boote hinterfragt in seiner neuen Kino-Dokumentation „Population Boom“ gängige Klischees über die globale „Überbevölkerung“. Die Ressourcen auf der Erde reichen kaum noch für die vorhandenen, geschweige denn für noch mehr Menschen, das Bevölkerungswachstum in Ländern wie Bangladesch, Indonesien, Nigeria oder Pakistan heizt den Klimawandel an und zerstört Lebensraum; deshalb muss gerade dort eine konsequente Bevölkerungspolitik dafür sorgen, dass die Geburtenzahl pro Frau deutlich sinkt: Alle diese oft unhinterfragten vermeintlichen Gewissheiten sind für Boote „Märchen“, die einer Überprüfung nicht standhalten.

Die in seiner Doku dargelegte These: Wer den Lebensraum auf der Erde wirklich schützen will, soll nicht Dritte-Welt-Ländern weniger Kinder verordnen, sondern den eigenen Lebensstil kritisch betrachten. Denn die Erde krankt nicht an zu vielen Menschen, sondern am ungehemmten Ressourcenverbrauch der reichen Indus-trienationen und an ungerechter Verteilung der Güter dieser Welt.

Dies veranschaulicht Werner Boote, der bereits mit seinem Film „Plastic Planet“ für Aufsehen sorgte, mit vielen Gesprächen, die er sowohl in den westlichen Macht- und Finanzzentren als auch in gigantischen Slums und menschenleeren Weiten im „Süden“ führte. Der frühere Regieassistent von Robert Dornhelm und Ulrich Seidl ist auf der Leinwand auf dem Dach eines unglaublich überfüllten Zuges in Bangladesch umringt von mitreisenden Einheimischen zu sehen, die einander – und ihn – vor dem Absturz sichern und bei der Fahrt durch Tunnels schützen. Aus dem Off ist zu diesen Bildern die „Botschaft“ des Filmes zu hören: Es kommt nicht darauf an, wie viele wir sind, sondern wie wir miteinander umgehen.

Infos: www.populationboom.at

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