Letzter Teil der Fastenzeit-Serie "mehr oder weniger" mit Ordensleuten - diesmal mit P. Christoph Müller OSB.

Fasten-Logo Mehr oder weniger  Fastenserie 2014

P. Müller ChristophP. Christoph Müller OSB (meist mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs)
geboren 1947, ist Benediktinerpater aus dem Kloster Einsiedeln/Schweiz, zur Zeit Pfarrer in Blons, St. Gerold und Thüringerberg im Großen Walsertal sowie Dekan für das Dekanat Walgau/Walsertal.
Seine Pilgererlebnisse auf dem Jakobsweg erschienen unter dem Titel „Neuland unter den Sandalen“. Das Buch „Benedikt für Anfänger“ bietet – angelehnt an die Benediktsregel – pointierte Lebensweisheiten aus dem Kloster.

Wir leben in einer erlebnissüchtigen Zeit, stellen Psychologen fest. Für Pater Christoph Müller haben die alltäglichen Ereignisse die größte „Erlebniskraft“. Auch Ostern ist alltäglich. Und manchmal braucht es die „lange Weile“, um zum Wesentlichen neu zu finden. 

Interview: Matthäus Fellinger

Man kennt Sie als vielbeschäftigt – mit drei Pfarren. Was sind für Sie die guten Erlebnisse, die Sie aufleben lassen?
P. Christoph Müller: Es sind drei eher kleine Pfarren, die ich betreuen darf. Und vielbeschäftigt erscheine ich wohl deshalb, weil mich die Leute oft auf der Straße sehen, da ich keinen Führerschein habe und somit meist mit dem Rad oder zu Fuß unterwegs bin.
Gut, ich mache auch den Haushalt und den Garten selber und habe von der Diözese noch kleinere Aufgaben übernommen. Aber alles, wirklich alles, was ich hier tun darf, ist mit guten Erlebnissen verbunden und lässt mich aufleben. Gerade das Radfahren, das viele als Belastung empfinden, ist jedes Mal ein Stück Ferien und Freiheit.

Wie mache ich Erlebtes lebendig – fruchtbar für mein Leben und das Leben anderer?
P. Christoph: Ich würde es so sagen: Alles Erlebte sollte zuerst einmal mich als ganzen Mensch prägen und so seine Spuren in meinem Denken und Handeln hinterlassen. So wie die leeren Hände der Bäuerinnen, denen ich am Sonntag die Kommunion reiche, geprägt sind von dem, was Tag für Tag durch ihre Hände geht. Es sind Hände, die nicht laut erzählen müssen, was sie täglich tun. Ich finde dieses Geprägtwerden durch alles, was man erlebt, wichtiger als darüber ein Buch zu schreiben. Ich habe meine Erlebnisse auf dem Jakobsweg nur unter äbtlichem Druck als Buch herausgegeben. Ich selber hätte es nicht gemacht. Es kann sich jemand für die Erlebnisse anderer interessieren und Bücher darüber lesen. Davon lebt ja der Buchhandel. Aber die entscheidenden Erlebnisse, jene, die einen wirklich prägen, muss man selber machen.

Welche Erlebniskraft hat für Sie Ihr Alltag?
P. Christoph: Der Alltag hat für mich eine sehr große Erlebniskraft. Ich liebe den Alltag über alles. Ich ziehe einen Werktagsgottesdienst mit drei alten Frauen der prallvollen Weihnachtsmette vor. In diesem Punkt bin ich Benediktiner, da die Benediktsregel eine Regel des Alltags ist. Das tägliche „ora et labora“ (bete und arbeite) in seiner ganzen Schlichtheit, das ist meine Welt. Am Morgen in der Frühmesse den Kelch in der Hand halten, dann wieder den Staubsauger oder ein Gartengerät, dazwischen das Gebetbuch und dann wieder den Fahrradlenker, um einem Kranken die Kommunion zu bringen – das ist die Erlebniskraft meines Alltags.

Haben Sie ein Problem mit der Langeweile?
P. Christoph: Ich habe durchaus ein Problem mit der Langeweile, aber es erschreckt mich nicht, weil diese den alten Mönchsvätern recht vertraut war. Sie beschreiben ausführlich diese Null-Bock-Mentalität, die einen oft völlig grundlos überfallen kann, sei es heftig, als Sinnkrise, oder in kleinen Portionen, zum Beispiel über die Mittagszeit.
Das geht dann so: Ich sollte etwas erledigen, worauf ich keine Lust verspüre. Darum schaue ich zuerst einmal nach den Mails, um bald darauf  im Kühlschrank nach etwas Essbarem Ausschau zu halten. Auf dem Küchentisch sehe ich dann ein Sudoku liegen, das seiner Vollendung harrt … Nun, ich finde das nicht sehr tragisch, da mein Geist vielleicht ab und zu solche Leerläufe braucht.  Um aber vor allem am Abend, wo ich relativ gut arbeiten kann, solches zu verhindern, habe ich den Fernsehapparat aus dem Pfarr­hof verbannt. Da ich allein im Haus bin, wäre die Gefahr zu groß, dass ich z. B. Sportsendungen in ihrer ganzen Länge anschauen würde. Ich weiß genau, dass mich dann später eine Mischung aus Unzufriedenheit und fader Langeweile überkommt. Am nächsten Tag finde ich ja die Resultate im Internet, und das genügt mir vollkommen.

Es gibt aber auch die andere „lange Weile“, die Sie beim Pilgern erleben.
P. Christoph: Das ist für mich etwas Anderes. Es geht da um diese „langen Weilen“ auf dem Jakobsweg. In eintönigen Gegenden setzt man tagelang einen Fuß vor den anderen und weiß oft nicht recht, was das soll. Der Kopf ist einmal leer, dann wieder voll, mal klar, mal chaotisch.  Im Rückblick waren es aber nicht die schlechtesten Zeiten, diese langen Weilen. Gewiss, jeder Pilger kann von seiner Reise sehr kurz-weilige Episoden erzählen, spannende Geschichten. Was ich aber, rückblickend, als das Wertvollste betrachte, waren diese langen Weilen. So mühsam sie oft waren, so waren doch sie es, die es mir ermöglichten, Schichten meiner Seele zu berühren, die ich bis dahin nicht kannte.

Fliehen Menschen die Langeweile zu sehr?
P. Christoph: Das Wort „Langeweile“ ist negativ belastet. Deshalb flieht man vor ihr. Und es gibt da mehr als genug Fluchthelfer. Was aber passierte, wenn man sie freiwillig an sich herankommen ließe? Das wollte letzthin ein 16-jähriger Schweizer wissen, der nach seinen Aussagen pro Tag durchschnittlich vier Stunden TV und drei Stunden PC konsumiert. Er beschloss, drei Tage in seinem Zimmer ohne jedes elektronische Gerät und ohne Buch zu verbringen.
Sein Rückblick: „Die Langeweile war extrem, und sie ging nicht weg. Die Zeit vergeht unglaublich viel langsamer, wenn man keine Ablenkung hat. Immerhin bin ich nicht durchgedreht. Ich begann mit der Zeit, auch die kleinsten Dinge spannend zu finden. Ich hatte eine Mineralflasche im Zimmer und begann, den Text auf dem Etikett zu studieren. Den kann ich jetzt fast auswendig. Und ich habe die Parkettreihen auf dem Boden meines Zimmers gezählt: Es sind 47 … Ich habe meine Gedanken zu Papier gebracht. Dabei ist mir etwas Erstaunliches aufgefallen. Am ersten Tag waren die Gedanken völlig ungeordnet und die Handschrift unsauber. Am zweiten Tag war alles schon viel schöner und geordneter. Am dritten Tag kamen die Texte wie ein Schulaufsatz daher … Es scheint mir, dass das Alleinsein mir mehr geholfen hat, Ordnung in meine Gedanken zu bringen.“
Und auf die Frage, was er am meisten vermisst habe: „Als Erstes nach meinem Versuch ging ich zu meinen Eltern. Die Kommunika­tion hat mir mehr gefehlt als die Unterhaltung, die elektronische Geräte auch bieten.“

Und dann würde ich auch gerne ansprechen: Das Ostererlebnis.
P. Christoph: Da muss ich zuerst vom Ostererlebnis des hl. Benedikt erzählen. Als er noch Eremit war, besuchte ihn zu Ostern ein Priester. Zu dessen Überraschung wusste Benedikt nicht, dass Ostern war. Er sagte dem Priester nur: „Ostern ist, weil du da bist!“ Was für eine Definition von Ostern, dem Fest der Begegnung mit dem Auferstandenen! Es ist Ostern, weil ein fremder Gast da ist!
Im Fremden begegnete ihm also der Auferstandene. Denn – so Benedikt in seiner Regel – der Herr wird uns einmal sagen: „Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen.“ Dementsprechend sollte denn auch die Aufnahme der Gäste geschehen: „Bei der Begrüßung begegnet man allen Gästen in tiefer Demut. Man neigt den Kopf, um in ihnen Christus anzubeten, der auch wirklich aufgenommen wird.“ Es handelt sich also hier um eine konkrete Erfahrung mit dem Auferstandenen.

Ist er noch anderswo erfahrbar?
P. Christoph: Zum Beispiel in den Kranken, denn der Herr wird uns, so Benedikt, auch sagen: „Ich war krank, und ihr habt mich besucht.“ Ebenso kann man ihm begegnen in der Stellungnahme eines jüngeren Bruders oder in der Kritik eines Gastes. Ostererlebnisse also ein bisschen überall: im Gästehaus, am Krankenbett, bei Beratungen.
Gewiss feiere ich in meinen drei Gemeinden mit großer innerer Anteilnahme die Heiligen Tage von Tod und Auferstehung Jesu. Aber die eigentlichen Ostererlebnisse geschehen eher nachher im Alltag, unvorhergesehen wie damals bei den Aposteln: Beim Mahl, unterwegs, nach vergeblicher Arbeit – wie am See Tiberias – und nicht zuletzt, als sie zu Pfingsten mit Maria und den Frauen im Gebet versammelt waren. 

Übung

Wie werde ich „Erlebnis“fähig?

Ich denke, dass jeder Mensch von Natur aus erlebnisfähig ist. Doch gibt es schon bei den kleinen Kindern Unterschiede. Es gibt solche, die jedes Käferlein entdecken und die Geduld der Mutter reichlich strapazieren, weil sie lange bei etwas stehenbleiben können. Andere sind eher oberflächlich und können kaum bei einer Sache verweilen. Diese erleben die Umwelt verständlicherweise auch weniger intensiv.

Ich denke, dass man Erlebnisfähigkeit einüben kann. Die einfachste Art ist wohl, dass man sich im Alltag zwischendurch bewusst wird, wo man jetzt im Moment gerade ist und was man gerade tut (z. B.: Ich sitze jetzt am Küchentisch und lese die Kirchenzeitung. Ich trinke einen Schluck Kaffee und lese dann weiter. Nun schließe ich kurz die Augen und genieße diesen ruhigen Augenblick. Bevor ich zu lesen aufhöre, überlege ich kurz, welchen Gedanken ich von dem, was ich gelesen habe, in den Alltag mitnehmen will).