Eine kritische Betrachtung zum Fernsehkonsum unserer Kinder. Von Dr. Eva-Maria Schmolly-Melk.

Das Fernsehen steht für sehr viele Menschen im Mittelpunkt ihrer Freizeit - und Lebensgestaltung. Bereits zweijährige Kinder verbringen durchschnittlich fast 2 Stunden täglich vor der „Glotze“, bei Jugendlichen sind es 3,5 Stunden. Das bleibt nicht ohne Folgen. 

Sind unsere Kinder Opfer einer Fernseh-(Un)kultur? Zur Zeit vor dem Fernsehen kommen noch die Stunden, die wir - Kinder, Jugendliche, Erwachsene - vor dem Computer und mit Videospielen verbringen. Jugendliche verbringen im Durchschnitt mehr Zeit vor den Bildschirmen als in der Schule. Die Folgen des vielen Fernsehens sind mittlerweile sehr detailliert untersucht. Unzählige Studien machen unmissverständlich klar, was viele intuitiv geahnt haben: Ein hoher Fernsehkonsum wirkt sich nachteilig auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aus, ihre Beziehungsfähigkeit und ihre Lernprozesse werden beeinträchtigt, Gewaltbereitschaft wird gefördert. Es ist die moderne Medizin- und Gehirnforschung, die Begründungen für diese festgestellten Zusammenhänge liefert.

Fernsehen schadet.
Fernsehen, lehrt die Neurowissenschaft, ist für Kinder bis zum Kindergartenalter - noch unabhängig vom gewählten Programm - schädlich. Die Erklärungen verweisen unter anderem darauf, dass beim Fernsehen räumliche und zeitliche Erfahrungen getrennt sind, das heißt, das Bild kommt vom Bildschirm und der Ton aus den Lautsprechern. Da das kindliche Gehirn noch nicht weiß, dass diese beiden Erfahrungen einander zuzuordnen sind, wird es in seinem strukturierten Aufbau gestört. Das gebannte „Starren“, diese Bewegungsarmut der Augen beim Fernsehen vermindert die Denkfähigkeit. Fernsehschauen ist auch kein Zustand der Konzentration oder der Aufmerksamkeit und ebensowenig ein Zustand der Entspannung, sondern ein Erregungszustand. Es ist die Rede von „Fernsehstress“.

Verarmte Erfahrungen.
Viele kennen die Erfahrung, dass Kinder nach einer längeren, scheinbar ruhigen Zeit vor dem Fernseher anschließend nervös und emotional „explosiv“ sind. Als besonders problematisch wird der massive Einsatz von „Schreckeffekten“ im Kinderfernsehen hervorgehoben. Hoher Fernsehkonsum zieht nach sich, dass zunehmend nur noch jene Signale aus der Umwelt aufgenommen werden, die hochkonzentrierte und übererregende Reize darstellen.
Das macht auch erklärlich, warum sich viele Kinder aber auch Erwachsene langweilen, wenn sie nicht fernsehen können, sprich keinen intensiven Input erhalten. Dazu kommt, dass Bildschirm-Erfahrungen besonders für das kleine Kind „verarmte Erfahrungen“ sind. Man kann nichts angreifen, riechen oder schmecken. Kleine Kinder müssen aber die pure Realität erleben dürfen, nur dann kann sich ihr Gehirn gesund entwickeln und kann sich ihnen in Folge die Welt allmählich erschließen.

Die Darbietung von Gewalt.
Seit den 60er Jahren sprechen die mit Kindern gemachten Untersuchungen alle dieselbe klare Sprache: Wer Gewalt im Fernsehen sieht, lernt Gewalt und wird sich selber gewalttätig verhalten. Das menschliche Gehirn lernt in jedem Augenblick, und das Lernen geschieht über die Erfahrung. Das, was wir erfahren, prägt uns. Das ist vielleicht eine der beeindruckendsten Erkenntnisse der Neurowissenschaften und markiert die hohe Verantwortung, die die Gesellschaft und die Eltern für Kinder haben. Nun hat Gewalt im Fernsehen die letzten Jahre eklatant zugenommen. In 78,7 % der Sendungen gängiger deutscher Fernsehkanäle kommt Gewalt vor. In einer Stunde werden durchschnittlich 4,12 sehr schwere Gewalttaten (wie Morde) und 5,11 schwere Gewalttaten gezeigt (wie Schlagen in schädigender Absicht). In den USA hat ein junger Mensch bis zu seinem 18. Geburtstag rund 32.000 Morde, 40.000 versuchte Morde und 200.000 Gewalttaten im Fernsehen gesehen. Besonders prekär ist die Tatsache, dass in nur 4% (!) der Gewaltkontexte eine gewaltfreie Problemlösung als Alternative aufgezeigt wird. Ist das wirklich das, was wir der jungen Generation weitergeben wollen?

Die Funktionalisierung der Kinder. Aufgrund der Privatisierung des Fernsehens wird heutzutage das Programm nicht mehr primär für die Zuseher/innen gemacht. Im Grunde werden sie an die Werbeagenturen verkauft. Die Einschaltquoten sind der „Umsatz“ des Fernsehens. Und was verkauft sich am besten? Offensichtlich immer noch „sex and crime“. Nicht was für junge Menschen förderlich ist, sondern wie man sie zu Zuschauern/innen und Konsumenten/innen macht, ist die Frage hinter dieser Logik. In Deutschland richtet sich deshalb rund 20% der Fernsehwerbung an Kinder. Wenn man sich die Werbung für Nahrungsmittel anschaut, dann zeigt sich, dass größtenteils ungesunde Produkte beworben werden. Sie enthalten viel zu viel Zucker, schlechte Fette und undefinierbare Zusatzstoffe. Würden sich Kinder davon ernähren, wozu die Werbestrategie sie verleiten will, würden sie über kurz oder lang krank. Wir wissen um diese grotesken Zusammenhänge, schauen aber doch zu.

Verantwortung übernehmen. Es geht nicht darum, das Fernsehen grundsätzlich zu verteufeln. Wenn die Qualität der Programme gewährleistet ist, dann ist gelegentliches Fernsehen bei größeren Kindern vertretbar. Aber es ist die unbedingte Aufgabe der Gesellschaft, der Gesetzgebung und zuallererst der Eltern, die Kinder vor dem zu schützen, was ihrer guten Entwicklung nicht förderlich ist. Und es ist nun einmal nicht kindgerecht, wie das Fernsehen heute das alltägliche Leben dominiert, wie Kinder mit Bildern und überdosierten Reizen überflutet und in ihrem geistigen und körperlichen Wachstum gestört werden, wie ihnen fragwürdige und vielfach falsche Werte vermittelt und sie den undurchschaubaren Mechanismen der Werbung ausgeliefert werden.

Kostbarste Zeit. Wie die Welt von morgen aussieht, hat zentral damit zu tun, in welcher Welt Kinder heute leben dürfen. Und die ist gestaltbar. Ganz konkret und im Kleinen. Und ist es nicht so, dass gerade das Einschlagen eines neuen Weges oftmals die besten Möglichkeiten eröffnet? Diejenigen, die den Fernseher aus dem Haus oder zumindest aus dem Wohnraum verbannen, erfahren einen Zuwachs an Lebensqualität und einen enormen Zeitgewinn. Zeit, die bleibt zum Spielen, Reden, Lesen, Musizieren, Basteln oder Geschichten erzählen. Für Kinder ist das die kostbarste Zeit.

Dr. Eva Maria Schmolly-Melk
Theologin und Psychoanalytikerin, verheiratet, zwei Kinder. Mitarbeiterin im Sekten- und Weltanschauungsreferat der Katholischen Kirche Vorarlberg und im Institut für Sozialdienste (IFS), Beratungsstelle Dornbirn.