Gilbert Rosenkranz berichtet über das Buch: "Ein Rabbi spricht mit Jesus"

Papst Benedikt XVI. hält es für das „bei weitem wichtigste Buch für den jüdisch-christlichen Dialog, das in den letzten Jahren veröffentlicht wurde“. Tatsächlich ist die Lektüre von „Ein Rabbi spricht mit Jesus“ ein mehrfacher Gewinn. Ganz nebenbei hilft es, die Denkart des Papstes kennenzulernen.
Gilbert Rosenkranz

Stellen Sie sich vor, Sie setzen sich in eine Zeitmaschine und fahren rund 2.000 Jahre zurück in das Land Israel. Sie landen auf einer staubigen Straße und treffen Jesus mit den Aposteln. In den folgenden Tagen und Wochen haben Sie Gelegenheit, mit Jesus von Nazareth direkt ins Gespräch zu kommen – zum Beispiel nach dessen Bergpredigt. Jacob Neusner, amerikanischer Religionswissenschaftler und Rabbiner, tut genau das. Er mischt sich unters Volk, stellt Jesus Fragen, die ihn bedrängen. Denn Jesu Botschaft stellt ihn vor die entscheidende Frage: Soll er Jesus nachfolgen oder weiterhin der Thora, der Offenbarung Gottes an Mose am Berg Sinai, Folge leisten?

Die Fragen greift Neusner nicht um des Disputes willen auf, sondern weil ein guter Streit im jüdischen Verständnis Gottesdienst ist, der größeren Ehrfurcht vor Gott dient. Ein Gespräch, das dazu dient, Menschen die Glaubenswahrheiten der eigenen Religion klarer vor Augen zu führen, um sie entschiedener zu leben – von den christlichen Lesern das Bekenntnis zu Jesus Christus, von den jüdischen Lesern ein Verständnis, warum sie sind, was sie sind.

Jude mit Buch2Andere Thora. Neusner stellt sich den Worten Jesu in großem Ernst. Er hält nichts davon, „sie als banale Sätze und allgemeine Wahrheiten“ zu bagatellisieren. Für ihn sind sie streitbare Behauptungen, die konfrontieren wollen: Den vorherrschenden Traditionen und Glaubenspraktiken stelle Jesus eine Botschaft gegenüber, die den Anspruch erhebe, die Erfüllung der Thora zu sein. Darin widerspricht Neusner. Seiner Meinung nach habe Gott den Israeliten eine andere Thora gegeben als jene, die Jesus lehrt.
Dass dies der Fall ist, zeigt sich in der Rede Jesu (Mt 5,21ff.), in der er sich mit deutlichem Anspruch messerscharf von der jüdischen Glaubenspraxis abhebt – etwa indem er meint: „Ihr habt gehört… dass gesagt worden ist: Du sollst nicht töten… Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein.“ Für Neusner Worte, die „in auffälligem Kontrast zu den Worten Mose am Berg Sinai stehen.“ Würde Neusner Jesus treffen, er würde ihm sagen: „Es hat den Anschein, als betrachtetest du dich selbst als Mose oder als über Mose stehend.“
Auch an anderer Stelle wird dieser Kontrast deutlich. Etwa wenn Jesus dazu einlädt, in seine Nachfolge statt in die Nachfolge der Thora zu treten.

Jesus geht zu weit. Spannend liest sich Jacob Neusners Buch dort, wo es um die Entscheidung für oder gegen Jesus geht. Es ist die Frage nach dem ewigen Leben. (vgl. Mt 19,16f.) Für Juden ist die Antwort glasklar. Es geht um die zehn Gebote und das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe. Doch Jesus geht darüber hinaus. Er sagt: „Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen. So wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben. Dann komm und folge mir nach!“
Für Rabbi Neusner geht Jesus zu weit. Angesichts der menschlichen Schwäche könne niemand Vollkommenheit als Preis für das ewige Leben verlangen. Gerne wäre er mit Jesus mitgezogen, hätte er Wege der Erfüllung der zehn Gebote aufgezeigt. Aber Vollkommenheit sei etwas völlig anderes.

Kritische Anmerkung zur Deutung des Autors: Wie kommt er auf die Idee, Jesus würde die Vollkommenheit zur Eintrittskarte für das Himmelreich machen? Vollkommenheit in diesem Zusammenhang meint hier wohl eher volle Teilhabe an der Schicksalsgemeinschaft Jesu. Und nicht: Entweder du wirst so wie ich, ein zweiter, dritter oder vierter Jesus, oder dir ist der Himmel verwehrt. Der Himmel – so verstanden – wäre ein exklusiver Club einiger weniger, die sich nicht nur die Botschaft Jesu, sondern auch dessen Lebensstil ganz und gar zu eigen machen.

In logischer Konsequenz kritisiert Neusner, Jesus sei – entgegen eigener Beteuerung – nicht an der Erfüllung des Gesetzes und der Propheten gelegen. Sondern er mache sich selbst zum Gesetz, wenn er sagt: „Dann komm und folge mir nach!“ Neusners Schlussfolgerung für sein Leben: Er will mit Jesus in Freundschaft verbunden bleiben. Aber er würde nicht, wie Petrus, Johannes, Jakobus und die anderen mit Jesus mitziehen. Zu oft würden die Thora und die Lehren Jesu nicht zusammenpassen.

Als gläubiger Jude für gläubige Christen. Beeindruckend aufrichtig und mit der Sachkenntnis eines Rabbiners sucht Jacob Neusner das Gespräch mit Jesus. Sein Leitmotiv dabei: „Wenn ich erreiche, dass die Lebensführung eines Christen auf einer bewussten Entscheidung beruht und nicht nur auf Gewohnheit, dann habe ich viel erreicht.“
Der Ton, in dem das Buch geschrieben ist, und die Aufrichtigkeit seiner Suche lassen keinen Zweifel daran, dass es Rabbi Jacob Neusner mit dieser Suche ernst ist. Papst Benedikt: Mehr als andere Auslegungen habe ihm Rabbi Neusner „die Augen geöffnet für die Größe von Jesu Wort und für die Entscheidung, vor die uns das Evangelium stellt“.

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(aus KirchenBlatt Nr. 31 vom 8. August 2010)