Im ersten Teil der Serie ging es um die Botschaft, die ganz am Anfang des Christentums stand. Jesus lud dazu ein, die Logik der Bergpredigt auszuprobieren: Wer sich im Glauben der verblüffenden Ordnung des Reiches Gottes anvertraut, wird die Erfahrung machen, wie gut und menschenfreundlich es jetzt schon in der Welt zugehen kann. – Diesmal fragen wir: Wie erging es Jesus selbst mit dieser Botschaft? Wohin hat ihn sein Weg geführt?

Logo Zauber des AnfangsZauber des Anfangs
Impulse aus dem Neuen Testament

Teil 2 von 6

von Dr. Christoph Niemand

Nicht wenige Menschen nahmen damals das „Evangelium vom Reich“ an und schlossen sich der „Jesus-Bewegung“ an. Manche davon folgten ihm buchstäblich nach und teilten seine Lebensform als Wanderprophet. Andere verblieben in ihren Familien, Berufen und Dörfern und wurden dort zu Stützpunkten und Erfahrungsräumen für die Sache Jesu. Die Mehrzahl der von Jesus Angesprochenen hielt seine Worte aber für zu gewagt, zu riskant. Sein Vertrauen, wir könnten hier und jetzt als „Königskinder des Reiches“ leben – ist es nicht eine vielleicht gut gemeinte, aber letztlich doch verrückte Utopie? Wer garantiert uns denn, dass Gott wirklich so nahe, so gütig, so großzügig, so mächtig ist, um Jesu Worte wahr zu machen? Einen Gott, so wie Jesus ihn zu kennen behauptet – seinen „Abba“, Vater –, gibt es den wirklich?

Kreuz
Die sozialen und religiösen Eliten im Land hatten weniger Zweifel. Sie hielt Jesus schlicht und einfach für brandgefährlich: Er phantasiere von „anderen Zuständen“ und mache die Leute rebellisch. Er destabilisiere die ohnehin prekäre politische Lage. Damit das römische Militär gar nicht erst auf den Gedanken käme, dreinzuschlagen, zog ihn die Tempelführung aus dem Verkehr und klagte ihn vor dem kaiserlichen Präfekten als Aufwiegler an. Jesus starb am Marterpfahl des Kreuzes: seine Menschenwürde – geschändet; der Anspruch seiner Botschaft – lächerlich gemacht; sein Vertrauen auf Gott – bis zum Anschlag herausgefordert.

Das Urteil Gottes
Wie die Sache weiterging, ist bekannt. Wenig später sagten Maria von Magdala, Petrus und andere, die ihm nachgefolgt waren: „Wir haben den Herrn gesehen“ (Joh 20,25). Jesus sei ihnen begegnet, habe sich ihnen als lebendig gezeigt. Die Apostelgeschichte erzählt, wie sie dann mitten in Jerusalem öffentlich verkündeten (2,24.36; 5,31):

„Gott hat ihn von den Wehen des Todes befreit und auferweckt …“
„Gott hat ihn zum Herrn und Christus gemacht, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt …“
„Gott hat ihn als Anführer und Retter an seine rechte Seite erhoben …“

Damit behaupteten sie: Das Urteil des Pilatus ist aufgehoben und ins Gegenteil verkehrt. Die Sache Jesu geht nicht nur weiter, sie fängt jetzt erst so richtig an. Aber nicht nur seine Sache: Ihn selbst und in Person hat Gott zum lebendigen Inbegriff seines eigenen Herrschens in der Welt gemacht. Jesus ist für alle Welt und in alle Zukunft Beispiel und Richtmaß, Modell und Anführer gelingenden Lebens.

Anführer
Im griechischen Urtext der zuletzt zitierten Stelle aus der Apostelgeschichte (5,31) steht für das deutsche Wort „Anführer“ der Ausdruck archegós. Es ist zusammengesetzt aus archê, das heißt „Anfang, vorderster Teil, Ursprung“, und ágein, das heißt „führen“. Ein archegós ist also einer, der ganz vorne geht, den Weg sucht, oder – wenn es noch keinen gibt – einen Weg bahnt. Und jene, die weiter hinten gehen, führt er auf den von ihm selbst erprobten Weg. Pionier und Pfadfinder, Anführer in unbekanntem oder gefährlichem Gelände, das ist die Grundbedeutung des Wortes archegós.
Noch an einer zweiten Stelle verwendet die Apostelgeschichte den Ausdruck archegós. In Kapitel 3, Vers 15, ruft Petrus den Menschen in Jerusalem zu:

„Den Anführer des Lebens habt ihr getötet, aber Gott hat ihn von den Toten auferweckt. Dafür sind wir Zeugen.“

„Anführer des Lebens“ ist die wörtliche Übersetzung für die griechischen Worte archegós tês zôês. In der Einheitsübersetzung steht dafür „Urheber des Lebens“. Der Ausdruck archegós kann zwar auch übertragene Bedeutungen wie „Urheber, Erfinder“ annehmen, aber an den beiden Stellen in der Apostelgeschichte geht es nicht um die Urheberschaft bei der Schöpfung, sondern um den Weg, den Jesus ging und bahnte. Darum ist hier die wörtliche Übersetzung sinnvoller.

Die wahr gewordene Botschaft
Am Kreuz schien der Weg Jesu im Nichts zu enden. Gott aber hat ihn auferweckt und allen Menschen als den „Pionier des Lebens“ angeboten. Gott hat Jesu Botschaft an ihm selbst wahr werden lassen. So ist Jesu Weg zum Weg schlechthin geworden. Er zeigt, wie Leben geht. Unzählige Menschen sind ihn seit damals nachgegangen. Und auch heute sagen viele, Jesus sei für sie Weg, Wahrheit und Leben in Person.

Impulse

Insgesamt viermal steht im Neuen Testament das Wort archegós (Pionier, Anführer) als Bezeichnung für Jesus: Neben den zitierten Stellen der Apostelgeschichte (3,15 und 5,31) noch zweimal im Hebräerbrief (2,10; 12,2). Die „alte“ Einheitsübersetzung hatte bei Apg 5,31 „Herrscher“, an den drei anderen Stellen „Urheber“. Die „neue“ verbessert „Herrscher“ auf „Anführer“, überall sonst bleibt sie aber bei „Urheber“.

  • Lesen Sie alle vier Stellen in Ihrer eigenen Bibel nach. Wie sind sie dort übersetzt?
  • Machen Sie den Versuch und lesen Sie sich die Stellen im Hebräerbrief (siehe oben) mit dem Wort „Anführer“ statt „Urheber“ mehrmals laut vor. Welche andere Sinn-Abstufung ergibt sich dadurch?
  • Haben Sie selbst schon einmal als „Pionier“ für andere Menschen einen gangbaren Weg bahnen müssen? Oder wurden Sie schon einmal von „Pfadfindern“ durch unwegsames Gelände geführt? Wenn wir uns solche Erfahrungen bildhaft vor Augen stellen, können die biblischen Worte von Jesus als „Anführer, Pionier und Pfadfinder des Lebens“ sehr lebendig – und lebensbestimmend – werden.

Dr. Christoph NiemandDr. Christoph Niemand
ist Universitätsprofessor der neutestamentlichen Bibelwissenschaft
an der Katholischen Privat-Universität Linz.
Zu seinen Veröffentlichungen zählt das Buch
„Jesus und sein Weg zum Kreuz“.

(aus dem KirchenBlatt Nr. 40 vom 5. Oktober 2017)