Das Fahrrad wird heuer 199 Jahre alt. Grund genug für eine Lobrede auf die Erfindung des Försters Karl Drais, die zu einem Mythos geworden ist und sich zur Utopie entfaltet.

Walter L. Buder

So ein Fahrrad, das ist eine tolle Geschichte und das Radfahren auch. Einmal gelernt, vergisst man es nie mehr. Es gehört zu den Erlebnissen der Kategorie „Das-Erste-Mal“, ist uns tief im emotionalen Gedächtnis verankert. Der erste Tritt ins Pedal ist der Beginn einer neuen Autonomie, begleitet vom unvergesslichen Erleben der Auswirkung eigener Kraft. Radfahren gehört zu den ersten bewussten Freiheitserfahrungen in einem Menschenleben. Was Kampf und Leiden bedeutet, wird durch das Fahrrad ebenso vermittelt, wie die Möglichkeiten und Grenzen von menschlichen Grunderfahrungen.
Aus diesem „Stoff“ ist der - überpersönliche - Mythos gestrickt, der „nur entstehen kann, wenn er von der Geschichte getragen wird und die Menschen darin die transzendente Form ihres eigenen Lebens erkennen.“ Und er wird stärker, wenn er in der Erfahrung derer, denen er erzählt wird, ein Echo findet.

Lebensfreude
Wenn man nun bedenkt, dass 11.529 Radlerinnen und Radler (Stand Dienstag dieser Woche) beim Vorarlberger RADIUS-Fahrradwettbewerb 2016 mittun, ist da eine gar nicht mehr so kleine Revolution im Gange. „Allein schon weil das Radfahren dem Traum einer utopischen Welt, in der es allen in erster Linie auf Lebensfreude ankommt und jeder Respekt genießt, eine greifbare Dimension verleiht“, so der französische Anthropologe Marc Augé in seinem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch „Lob des Fahrrads“. Augé hat eine „Ethnologie des Nahen“ begründet, eine Art kulturwissenschaftliche Anthropologie mit der „Nase im Wind“. Das tut der Seriosität des Ganzen keinen Abbruch.

Wer nun den Wind im Gesicht mag oder gar liebt, wird diese 100 Seiten der Eloge (Lobrede) auf das Fahrrad mit Vergnügen und Gewinn - immer aber: lächelnd - lesen. Der gelassene Humor macht Rückenwind für lehrreiche, erstaunliche und motivierende Ein- und Ansichten zur zukunftsträchtigen und gesellschaftsrelevanten Utopie einer „Vélo liberté“. Die 12 Zeichnungen von Philipp Waechter unterstützen die Wirkung der Gedanken ebenso wie Michael Bischoffs feine Übersetzung dieses Manifestes der Fahrradfreiheit aus dem Französischen.

Buch von Marc Auge

BUCH-TIPP

Marc Augé, Lob des Fahrrads.
Aus dem Französischen von Michael Bischoff.
Mit Zeichnungen von Philip Waechter.
München 2016.
Verlag C.H. Beck.
€ 15,40.  

(aus dem KirchenBlatt Nr. 20 vom 19. Mai 2016)