Seit 40 Jahren gibt es auf dem Filmfestival von Locarno eine kirchliche Jury, die ihre Aufmerksamkeit qualitativ herausragenden Werken schenkt, welche spirituelle Aspekte unserer Existenz berühren und Werte wie Menschenwürde, Gerechtigkeit, Respekt gegenüber der Umwelt, sowie Frieden und Solidarität ansprechen.

von Klaus Feurstein

Bild rechts: Laine Mägi und Jeanne Moreau in "Une Estonienne á Paris"

Das erste Mal überhaupt wurde der Preis der ökumenischen Jury 1973 in Locarno an Krzysztof Zanussi für seinen Film „Iluminacia“ vergeben. Anlässlich des 40-Jahr-Jubiläums wurde heuer dieser Film wieder gezeigt und der weltberühmte Regisseur als Ehrengast und Leiter einer Masterclass nach Locarno geladen – ein auffälliges Zeichen kirchlicher Filmarbeit an einem der größten Kultur-Events.

Preisträger
Heuer ging der Preis der ökumenischen Jury an den Film „Une Estonienne à Paris“ von Ilmar Raag, in dem Jeanne Moreau in der Rolle der eleganten, aber (scheinbar) menschenverachtenden alten Pariserin Frida mit ihrer tiefen, verrauchten Stimme eine schauspielerische Glanzleistung bot. Die betagte Dame soll auf Betreiben ihres ehemaligen jüngeren Liebhabers und jetzigen Freundes von einer Frau namens Anne betreut werden, die er aus Estland kommen lässt, wo Frida ihre Kindheit verbracht hatte. Sie schikaniert und demütigt diese aber nur. Weil Anne aber nicht aufgibt, gelingt es ihr, den Schutzpanzer der verhärmten alten Frau aufzubrechen und ihre weiche Seite zum Vorschein zu bringen. „Der formvollendete und exzellent gespielte Film behandelt auf berührende Weise existenzielle Themen wie Verlust, Altwerden, Liebe, Trauern, Nächstenliebe und die Begegnung mit den anderen“, lautete die Begründung der Jury. Insbesondere der Fokus auf die Sinnfrage und die menschliche Begegnung gab den Ausschlag für den Entscheid.

Lebensentwürfe
Den zweiten Preis vergab die kirchliche Jury an den österreichischen Film „Der Glanz des Tages“ des Regie-Duos Rainer Frimme und Tizza Covi. Darin trifft der schon pensionierte Tierbändiger und Zirkusartist Walter Saabel auf den jungen erfolgreichen Schauspieler Philipp Hochmair, der mit seinen Engagements zwischen dem Thalia-Theater Hamburg und dem Burgtheater in Wien pendelt. Damit treffen zwei gegensätzliche Lebensentwürfe aufeinander. Der bodenständige Walter holt den sich in den vielen Rollen fast verlierenden Schauspieler ins Leben zurück. Beide spielen sich selbst mit Versatzstücken aus den eigenen Biographien.

Walter Saabel erhielt für die Darstellung den Preis der Hauptjury für den besten Schauspieler. Eine weitere zentrale Figur ist ein moldawischer Asylant in Wien, der mit seiner eigenen Lebensgeschichte dem Film eine aktuelle politische Dimension verleiht. Vorgegeben war nur ein zwanzigseitiges Rahmendrehbuch, das den Schauspielern viel Spielraum zur Improvisation bot bzw. diese ihnen abverlangte. Diese Mischung aus Dokumentation und Spielfilm ergibt ein äußerst spannendes Produkt und ist typisch für die momentane Entwicklung im Film.

Mut zur Vielfalt
Locarno zeichnete sich aus durch eine große Bandbreite an filmischen Genres, vom Spielfilm über den Experimentalfilm, die Spieldoku bis zum innovativen Dokumentarfilm reichte, wie er z.B. in „Leviathan“ (von Verena Paravel und Lucien Castaing-Taylor) realisiert wurde, der die Zuschauer mittels waghalsiger Perspektiven mit den ungeschönten Bildern von der Arbeit auf einem Fischkutter konfrontiert. Ein Film, der aufrüttelt und den mangelnden Respekt vor der Natur am Beispiel des industriellen Fischfangs auf drastische Weise  thematisiert.

Ehrengäste in Locarno

Bemerkenswert in Locarno sind auch immer die Ehrungen berühmter und verdienter Filmgrößen. Heuer erhielten unter anderen Alain Delon, Ornella Muti und Charlotte Rampling Ehrenpreise.

Harry BelafonteBesonders beeindruckend war der Auftritt des 85-jährigen Harry Belafonte (Bild links), der nicht nur im ersten Film mitgespielt hatte, in dem ausschließlich Schwarze die Hauptrollen verkörperten („Carmen Jones“ von Otto Preminger aus dem Jahr 1954, der im Rahmen der Preminger-Retrospektive gezeigt wurde), sondern in seinem Engagement für den Frieden und die schwarze Bürgerrechtsbewegung an die Öffentlichkeit getreten war.

Kunst und Politik
In seiner kurzen Dankesrede sagte Belafonte: „Mit dieser Auszeichnung fühle ich mich als Künstler geehrt. Aber ich empfinde sie vor allem auch als Ehrung meines lebenslangen Kampfes für soziale Gerechtigkeit.“ Vom tosenden Beifall der Zuschauer unterbrochen, fügte der 85-Jährige hinzu: „Ich glaube daran, dass Künstler heute mehr denn je notwendig sind, um den Regierenden dieser Welt zu helfen, den richtigen Weg aus den Krisen der Gegenwart zu finden. Künstler sind die Hüter der Wahrheit.“ Das ist sicher ganz im Sinne der ökumenischen Jury.