4. Teil der Serie "Menschengerecht" von Bischof Erwin Kräutler

Luís stammt aus dem Bundesstaat Maranhão und lebt mit seiner Frau Francisca und seinen Kindern unweit der Stelle, an der Schwester Dorothy im Februar 2005 ermordet wurde. Auch er geriet ins Kreuzfeuer eines Großgrundbesitzers. Als dieser mit der Waffe in der Hand drohte, die ganze Familie zu ermorden, „erhob Gott einen Wall zwischen ihm und uns“, erzählt Luís: „Ich spürte die Hand Gottes. Gott war stärker!“

Zehn Tage vor ihrem gewaltsamen Tod gab Schwester Dorothy der auflagenstärksten Zeitung Nordbrasiliens ihr letztes Interview. Auf die Frage des Reporters, ob ihr der Boden unter den Füßen nun nicht doch zu heiß würde, sagt sie: „Ich weiß, sie wollen mich umbringen, aber ich werde nicht davonlaufen. Mein Platz ist hier, an der Seite dieser gedemütigten Leute. Ich glaube fest an Gott und weiß, dass er mit mir ist! Wenn sie mich umbringen, möchte ich hier beerdigt werden, in der Nähe dieses armen Volkes.“
„Ich spürte die Hand Gottes!“ „Ich weiß, dass Gott mit mir ist!“ Leere Worthülsen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Luís nur ein frommes Sprüchlein aufsagt, wenn er sich an Tato mit der Waffe in der Hand erinnert (siehe Bildtext).
Sicher hat Dorothy im Angesicht des Todes dem Reporter auch nicht nur ein erbauliches Wortblümchen mit auf den Weg geben wollen.

Gott ist da
In vielen Regionen Brasiliens sagt man beim Abschied: „Geh mit Gott!“ – „Bleibe mit Gott!“ Kinder erbitten den Segen der Eltern und Vater und Mutter antworten: „Gott segne dich!“ – „Gott mache dich glücklich!“ „So Gott will!“ heißt es beinahe in ­jedem zweiten Satz.
Gott ist für diese Menschen einfach „da“. Gott ist für sie keine abstrakte Idee oder das „vollkommenste Wesen“ der Philosophie, mit all den Eigenschaften, die sich diese seit der Antike erdacht haben, ein farbloses, unpersönliches, abgehobenes „Super-Sein“, ein Etwas, „über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“, wie es Anselm von Canterbury (+ 1109) in seinem Versuch eines Gottesbeweises formulierte.

Gott ist ein Du
Niemand begegnet Gott in „Gottesbeweisen“. Gott ist ein Du, dem ich mich anvertraue. Gott erfüllt mein Leben, nimmt mich in seinen Bann, liebt mich mit ewiger Liebe. Wer glaubt, erfährt Gottes ­Gegenwart täglich n eu: „Ich vertraue auf dich, in Freude und Leid, in gesunden und kranken Tagen.“ „Ich glaube an dich und weiß, dass du mit mir den Weg gehst, selbst wenn Verfolgung mich mit Angst erfüllt.“ „Du bist da, auch in der Agonie des Ölbergs, in der Verlassenheit des Kreuzes.“ Auf das verzweifelte „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ (Ps 22,2) folgt ein paar Verse später die glückselige Erkenntnis: „Von Geburt an bin ich geworfen auf dich, von Mutterleib an bist du mein Gott!“ (Ps 22,11).

Der Kern der Frohen Botschaft
Auf die Frage des Mose nach seinem Namen antwortet Gott: „Ich bin der für euch da ist. (...) Das ist mein Name für immer, und so wird man mich nennen in allen Generationen“ (Ex 3,14–5). Dieser Satz ist der tiefste Kern der Frohen Botschaft Gottes an die Menschen. Der Name Gottes ist aber nur auf dem Hintergrund der vorausgegangenen Verse des Exodus-Berichtes zu verstehen: „Ich habe das Elend meines Volkes gesehen und ihre laute Klage über ihre Unterdrücker habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid“ (Ex 3,7).
Gott ist für sein Volk da und steigt herab, um es zu befreien. „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau“ (Gal 4,4).
Gott ist in Jesus Mensch geworden, hat sein Zelt unter uns aufgeschlagen (Joh 1,14). Wer ein Zelt aufschlägt, ist unterwegs. Gott ist ­unterwegs mit den Menschen aller Völker und Kulturen, zu allen Zeiten. Er ist kein passiver, distanzierter, am Schicksal der Menschen uninteressierter Gott.
Das Matthäus-Evangelium verheißt einen ­Immanu-El, „Mit-uns-Gott“ (Mt 1,23, Jes 7,14), den die Jungfrau gebären wird. Maria soll ihrem Sohn den Namen „Jesus“ geben, „Gott rettet“, „Gott befreit“ (Mt 1,21; Lk 1,31; Phil 2,9).

Mut fassen mit Jesus
Jesus geht auf die Menschen zu, heilt, tröstet, ermutigt und verteidigt sie. Er spielt unsere Sorgen nicht herunter mit einem „Freunde, es ist doch alles nur halb so schlimm!“. Jesus weiß um die Last, die wir tragen und zu ertragen haben: „In der Welt seid ihr in Bedrängnis“, gibt er zu. Auch er ist in Bedrängnis: „Meine Seele ist zu Tode betrübt.“ (Mt 26,38). Als die Lage immer kritischer wurde, hätte er davonlaufen können. Er tut es nicht. Er bleibt seiner Sendung treu.

Bis zum Ende der Welt

Im Angesicht seines eigenen furchtbaren Todes tröstet er die Seinen: „Verliert den Mut nicht! Ich habe die Welt besiegt!“ (Joh 16,33). Und er verspricht, mit uns den Weg durch die Zeit zu gehen, heute und morgen, in naher und ferner Zukunft: „Seht, ich bin mit euch alle Tage, bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20).

IMPULS

Beten Sie in dieser Woche – vielleicht täglich – Psalm 22 (hier Vers 2–12)

Mein Gott, mein Gott,
warum hast du mich verlassen, / bist fern meinem Schreien,
den Worten meiner Klage?

Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort;  ich rufe bei Nacht
und finde doch keine Ruhe.

Aber du bist heilig, / du thronst über dem Lobpreis Israels.

Dir haben unsre Väter vertraut,  sie haben vertraut
und du hast sie gerettet.
Zu dir riefen sie und wurden befreit,
dir vertrauten sie
und wurden nicht zuschanden.

Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch,
der Leute Spott,
vom Volk verachtet.

Alle, die mich sehen, verlachen mich,
verziehen die Lippen, schütteln den Kopf:
Er wälze die Last auf den Herrn, der soll ihn befreien!
Der reiße ihn heraus,
wenn er an ihm Gefallen hat.
   
Du bist es, der mich aus dem Schoß meiner Mutter zog,
mich barg an der Brust der Mutter.   
Von Geburt an bin ich geworfen auf dich,
vom Mutterleib an bist du mein Gott.   
Sei mir nicht fern, denn die Not ist nahe
und niemand ist da, der hilft.