Am 25. Mai wird gewählt. Es geht um das Europaparlament. Aber für viele BürgerInnen scheint Europa kein Thema zu sein. Populisten hingegen versuchen mit nationalen Parolen Kapital aus den Folgen der Wirtschaftskrise zu schlagen. Alois Glück, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, über Europa und warum ChristInnen wählen sollten.

Interview: Hans Baumgartner 


In manchen Kreisen kursiert der sarkastische Spruch: Stell dir vor, es ist Wahl und niemand geht hin. Warum diese große Europaskepsis?
Alois Glück: Soweit ich sehe, ist dieses Desinteresse oder diese Skepsis an EU-Europa vor allem in den mittel- und westeuropäischen Ländern verbreitet. Wenn ich Stimmen aus Polen oder dem Baltikum höre, dann klingen die ganz anders. Dort treten die Erinnerungen an die russische Vorherrschaft und die Jahrzehnte der Unfreiheit gerade jetzt, angesichts der Krise in der Ukraine, wieder deutlich hervor. Während bei uns viele Menschen die Segnungen des europäischen Einigungsprozesses als Selbstverständlichkeit gar nicht mehr schätzen, wird in den östlichen Ländern die Einbindung in die europäische Staatengemeinschaft als großer Rückhalt erlebt. 


Worin bestehen denn die „Segnungen“?
Wenn man sich die Geschichte Europas anschaut, vor allem die furchtbaren Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts, dann ist der europäische Einigungsprozess ein zweifellos  historisches Friedensprojekt, das auf den gemeinsamen Werten der Demokratie, der Freiheit, der Achtung der Menschenrechte und der Ächtung des Krieges als Mittel der politischen Konfliktaustragung beruht. Und es ist auch ein Projekt, das durch wachsende wirtschaftliche Zusammenarbeit für viele Millionen Menschen einen Raum des Wohlstands, der Lebensqualität und Sicherheit geschaffen hat. Es ist ja kein Zufall, dass gerade in der Phase der akuten Finanz- und Wirtschaftskrise die Europa-Zustimmung gestiegen ist.


Aber diese Krise hat im europäischen Gefüge auch gefährliche Risse aufgetan. Hat Sie das überrascht?

Dass Krisen Debatten auslösen, ist normal. Aber die Heftigkeit und die häufig polemische Art der  Auseinandersetzung hat mich schon überrascht. Denn schließlich müsste uns doch allen bewusst sein, dass wir im Prozess der Globalisierung Woche für Woche mehr eine Schicksalsgemeinschaft gegenseitiger Abhängigkeiten werden. Das gilt für weltweite wirtschaftliche, politische oder ökologische Krisen, wo plötzlich wichtige Märkte wegbrechen oder eine Flüchtlingsflut vor unserer Tür steht. Und das gilt besonders für das eng miteinander verflochtene Europa.  Wenn in Griechenland oder Italien die Wirtschaft einbricht oder der Staatskollaps droht, dann sind auch Arbeitsplätze in Deutschland oder Österreich mit ihren starken Exportwirtschaften davon betroffen. Wer da meint, er könne sich immer nur die Rosinen aus dem Kuchen des großen EU-Marktes picken und dann, wenn es Probleme gibt, beiseitestehen, der irrt gewaltig. Kein europäisches Land ist stark genug, um in der globalisierten Welt von heute, besonders in wirtschaftlichen oder politischen Konfliktsituationen, allein bestehen zu können. Das kann nur eine zum Zusammenhalt entschlossene, handlungsfähige Europäische Gemeinschaft. 


Aber wie weit ist es wirklich mit dem Zusammenstehen? Die EU-Bischofskommission beklagt
das Anwachsen „neuer Armer“ und eine um „ihre Zukunft betrogene junge Generation“. 

Eines muss uns klar sein: Wir sind in Europa inzwischen so eng miteinander verbunden, dass die in den vergangenen Jahrzehnten bei uns innerstaatlich entwickelte Solidarität auch auf europäischer Ebene als Maßstab gelten muss. Europa ist eben nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch eine Solidargemeinschaft. Und deshalb kann es uns nicht gleichgültig sein, wenn in Spanien die Hälfte der Jugendlichen keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz hat oder in Griechenland breite Bevölkerungsschichten verarmen.
Aber Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wenn wir wirklich etwas für die Menschen weiterbringen wollen, dann müssen auch in den betroffenen Ländern die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden, dass z. B. für junge Leute etwas Neues entstehen kann bzw. dass die Wirtschaft wieder international wettbewerbsfähiger wird. Die Unterstützung Europas ist wichtig – und sie kostet Geld, auch unseres. Aber ohne – auch schmerzhafte – Reformen in den betroffenen Ländern wird es keine nachhaltige Entwicklung zum Besseren geben. 


Im Zusammenhang mit den „Rettungsmaßnahmen“ wird vielfach kritisiert, dass die „Hilfe“ vor allem an Banken und internationale Gläubiger geht, nicht aber an die Menschen. Ist das so?
Ich kann die Kritik verstehen, dass man bei den „Feuerwehraktionen“ nach Ausbruch der Finanzkrise wirtschafts- und arbeitsmarktfördernde Stützungsmaßnahmen vielleicht zu wenig im Auge gehabt hat. Andererseits hätte der Zusammenbruch des Bankwesens oder ganzer Staatshaushalte nicht abschätzbare Auswirkungen auf die Wirtschaft vieler Länder gehabt. Aber für mich wirft diese Krise ein noch viel tiefer gehendes Problem auf, denn sie ist nicht nur eine Folge der Gier der Finanzmärkte, sondern macht ein echtes  Strukturproblem deutlich: Wir haben eine Art zu wirtschaften und zu leben entwickelt, die auf ständig hohes Wachstum angewiesen ist. Und weil die eigene Leistungsfähigkeit dafür nicht mehr gereicht hat, haben wir eine Art „Doping“ gemacht.


Was meinen Sie damit?
Viele haben, auch angestachelt durch einen unverantwortlichen Finanzmarkt, zunehmend über ihre Verhältnisse gelebt, was u. a. zur Immobilienblase geführt hat. Und wir haben Jahr für Jahr höhere Staatsschulden gemacht. Wir retten uns mit „Finanzspritzen“ über die Runden und erwirtschaften – auch in Österreich oder Deutschland – nicht mehr das, was unsere Art zu leben kostet. Da bringt es jetzt gar nichts, den Schwarzen Peter zwischen ärmeren und reicheren Ländern hinund herzuschieben; wir müssen uns dieser Lebenslüge stellen und endlich Zukunftsstrategien für eine neue Wirtschafts- und Lebensweise entwickeln. Unser Wachstumsmodell muss auf den Prüfstand. Und dabei muss ein ganz entscheidender Maßstab sein, was bedeutet unser Handeln für die nachkommenden Generationen und für die Menschen in anderen Regionen dieser Welt. Lebenspraktisch gesagt: Wie schaffen wir es, dass wir uns als Land bzw. als Europäische Union so verhalten wie Eltern, die um der Zukunft ihrer Kinder willen, auf das eine oder andere verzichten, was nicht lebensnotwendig ist? 


„Verzicht“ ist aber keine populäre politische Kategorie. Lautet die Parole nicht vielmehr: Nur Wachstum sichert Wohlstand?
Wir sollen uns ja nicht vom Wachstum oder vom technisch-wissenschaftlichen Fortschritt verabschieden. Aber die Frage ist: Wollen wir noch immer mehr vom selben oder müssen wir nicht viel entschiedener zukunftsfähige, sozial und ökologisch nachhaltige Projekte in Angriff nehmen. Das ist die große Herausforderung – und die werden wir nicht ohne entsprechende Wertorientierung schaffen.

 

Aber steckt die Politik in unserer „Geiz-ist-geil“-Gesellschaft nicht in einem Werte-Dilemma?
Ich bin da nicht so pessimistisch. Denn ich beobachte, dass zunehmend mehr Menschen, vor allem seit der Finanzkrise, spüren, so kann es nicht weitergehen. Ich wage die Aussage, dass wir in den vergangenen 50 Jahren keine so lebhafte Debatte über Werte hatten wie heute. Es gibt viele zivilgesellschaftliche Gruppen, die Druck machen – etwa was den Klimawandel angeht, die Neuordnung der Finanzmärkte, den sorgsamen Umgang mit Rohstoffen und Lebensmitteln, eine neue Migrations- oder Generationenpolitk. Und das gibt mir Hoffnung: Denn meine lange Erfahrung, etwa im Bereich der Umwelt- oder Behindertenpolitik, sagt mir: Wenn der Druck von unten und der „Leidensdruck“ aus der Sache selbst groß genug sind, bewegt sich auch die Politik. Wir sehen das aktuell beim Ringen um eine Neuregelung des Banken- und Finanzsektors. Die Sache ist nur: je später wir tragfähige Zukunftsstrategien entwickeln, desto geringer wird unser Spielraum und desto schmerzlicher die Eingriffe.


Sie haben schon etliche „Baustellen“ angesprochen: Wo sehen Sie weiteren Reformbedarf?
Die EU braucht sicherlich eine neue Strategie in der Migrations- und Asylpolitik und in ihrer Entwicklungspolitik – den beide hängen eng miteinander zusammen. Und wir brauchen dringend eine Korrektur des jetzt einseitig verlaufenden Zentralisierungsprozesses nach dem Prinzip der Subsidiarität. Wir müssen neu durchbuchstabieren, was um der europäische Handlungsfähigkeit willen tatsächlich „in Brüssel“ entschieden werden muss und was man wieder stärker in nationale Bereiche zurückführen muss bzw. was nicht angetastet werden darf. Gerade in einer globalisierten Welt ist das Bedürfnis der Bürger/innen nach eigener kultureller Identität und nach Gestaltungsmöglichkeiten im eigenen Lebensraum von enormer Bedeutung. Föderalismus und gelebte Subsidiarität mögen anstrengend sein, aber sie sind letztlich in ihrer Leistungsfähigkeit fruchtbarer und die Menschen können sich mit einem so gestalteten Europa besser identifizieren – als Tiroler, Vorarlberger etc. Außerdem ist das die beste Vorbeugung gegen Populisten.

Was sagen Sie zu dem geplanten Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP)?

Neben den wirtschafts-, arbeitsmarkt- und umweltpolitischen Fragen stellt sich für mich ein Kernproblem: Die im Abkommen geplanten Schiedsgerichte stellen einen Bruch mit der europäischen Rechtskultur dar. Das darf unter keinen Umständen passieren.


Warum sollen die Leute wählen gehen?
Weil wir ein demokratisches und handlungsfähiges Europa brauchen und weil das Europäische Parlament dafür immer größere Bedeutung hat. Und da tragen wir – gerade als Christen – Verantwortung, dass nicht Populisten, die Menschen anderer kultureller Prägung ausgrenzen, die nationale Zwietracht säen und eine  Neidgenossenschaft propagieren, zunehmend das Sagen haben. Da geht es auch um europäische Werte und ein christlich geprägtes Menschenbild.