Immer wieder treffen wir auf Menschen am Straßenrand, die still um Geld bitten. Irritierend, berührend, störend - ihre Wirkung auf Passanten ist sehr unterschiedlich. Welche Geschichten diese Menschen mitbringen und vor welche Herausforderungen sie Einzelne und Gesellschaft stellen, darüber sprach das KirchenBlatt mit Caritas-Mitarbeiter Michael Natter.

Patricia Begle

Der erste Impuls, den ein Bettler hervorruft ist meist: Geben. Erst beim Weiterdenken schieben Worte wie „Selber Schuld“ oder „Vorsicht: Bettlerbanden“ der Großzügigkeit einen Riegel vor. Aus dem Zögern wird ein Vorbeigehen. Einer solchen Entscheidung fehlt es allerdings meist an Klarheit und so stellt sich ein unangenehmes Gefühl als Begleiterscheinung mit ein.

Michael M. NatterMichael M. Natter
Fachbereichsleiter Sozial-Beratung/Begleitung,
ist seit 22 Jahren
in der Inlandshilfe der
Caritas Vorarlberg tätig.


Die Vorgeschichte
Etwas Klarheit in die Thematik des „Bettelns“ bringt  der Blick auf die bettelnden Menschen. Während früher Obdachlose und Punks am Straßenrand saßen, begegnen uns heute vielfach Menschen aus süd- und osteuropäischen Staaten mit offenen Händen oder Plastikbechern. „Die Geschichten, die hinter diesen Menschen stehen“, erzählt Michael Natter, „sind nicht mehr Geschichten von Verarmung, sondern wenn man sich auf deren Spuren begibt, dann begegnet man absolutem Elend. Es übersteigt oft das für mich Vorstellbare. Es ist auch nicht nur das Problem einer Volksgruppe, sondern hier reden wird vom Dahinvegetieren von ganzen Bevölkerungsschichten innerhalb der EU.“

Der Ausweg ins Ausland
Die wirtschaftliche und soziale Lage in diesen Staaten scheint tatsächlich hoffnungslos: kein funktionierendes Gesundheits- und Sozialwesen, hohe Jugendarbeitslosigkeit, ein Großteil der Kinder und Pensionist/innen lebt an der Armutsgrenze, Korruption erschwert Verbesserungen. In Rumänien zum Beispiel verdient ein unqualifizierter Arbeiter 150,- Euro im Monat, ein Arzt 350,- Euro. Die Lebenserhaltungskosten aber sind ähnlich hoch wie bei uns. So gibt es für viele schlicht nur einen Ausweg: Geld verdienen im Ausland. 28.000 Ärzte und 17.000 Krankenschwestern aus Rumänien arbeiten im Ausland. Für Menschen ohne Fachausbildung sind die freien Stellen am Arbeitsmarkt rar. 2013 setzten zum Beispiel 90% aller neuen Arbeitsplätze in Vorarlberg Computerqualifikation voraus. So bleibt für diese Menschen manchmal nur ein Job übrig: das Betteln.

Legal und aktiv
„Betteln ist ein Geschäftsmodell“, erklärt Michael Natter. „Oft organisieren sich dazu ganze Familien oder Verwandtschaften.“ Der erfahrene Caritas-Mitarbeiter erkennt im Betteln auch positive Aspekte: Menschen, die betteln, wählen einen legalen Weg der Geldbeschaffung und sind zudem selbst aktiv, Betteln ist mit hohem körperlichen und psychischen Aufwand verbunden. „In gewisser Weise ist Betteln ein Mittel gegen Apathie und Kriminalität“, stellt Natter fest.

Die rechtliche Lage
Diese positive Sichtweise teilen nicht alle. Obwohl in Vorarlberg die Zahl der Bettelnden relativ gering ist - es sind, so Natter, maximal 20 Personen aktiv - stellen diese für manche Zeitgenossen eine Störung dar, manchmal fühlen sich Menschen sogar bedroht. „Es schwingt mit, der durch Generationen erarbeitete Wohlstand ist in Gefahr, ein subjektives Sicherheitsgefühl gerät aus den  Fugen“, beschreibt Natter. Wird die Polizei gerufen, kommt es oft zu einer Verwaltungsstrafe. 80 Euro. Für dieses Geld muss lange am Straßenrand gesessen werden. Vom Gesetz her ist in Österreich „stilles Betteln“ erlaubt, „aggressives“ hingegen illegal. Die Polizei ist verpflichtet, für „subjektive Sicherheit“ zu sorgen. Schon die Begriffe zeigen, dass es hier um persönliches Empfinden geht, das von Person zu Person verschieden ist.

Die Auseinandersetzung
Wer sich eben diesem Empfinden stellt, bringt weitere Klarheit in die äußerst komplexe Thematik des Bettelns. Auf persönlicher Ebene geht es um den Umgang mit Fremdem, um Angst, Unsicherheit und Ohnmacht. „Dieses zur ‚Schau gestellte Elend‘ verstört und verunsichert. Mit dieser Irritation muss sich jede und jeder beschäftigen. Wir können diesen Anblick nicht einfach ‚wegzappen‘. Das Wichtigste für mich ist, zuerst in den eigenen inneren Dialog zu treten“, erläutert Natter.

Das Geben
„Es geht darum, dass wir im Bettler bzw. in der Bettlerin den Menschen sehen und versuchen, in irgendeiner Form in Kontakt zu treten“, ist Natter überzeugt. „Dann das Herz sprechen lassen. Die Überlegung, wirksam helfen zu wollen, ist gut. Barmherzigkeit kann im Zweifelsfall die Antwort sein. Sie ist immer als persönliche Entscheidung zu sehen.“
Ist eine Gabe einmal gegeben, dann liegt die Verantwortung dafür nicht mehr in den Händen der Gebenden. „Wenn ich etwas gebe, dann muss ich es in meiner Großzügigkeit auch loslassen“, weiß Natter. Mit einer Geldspende wird der bettelnde Mensch ernst genommen und nicht bevormundet. Schließlich weiß er, was er braucht. „Sie brauchen Geld und Arbeit“, erklärt Natter.

Im selben Boot
Was früher nur über das Fernsehen in unsere Häuser kam, ist heute in unserer direkten Nachbarschaft erlebbar. Die „heile Welt“ gibt es auch bei uns schon längst nicht mehr, der „Goldene Westen“ ist Geschichte.
„Globale Entwicklungen sind nun wirklich lokal angekommen. Das kann ein Einzelner nicht lösen“, beschreibt Natter. „Meiner Meinung nach braucht es innerhalb der  EU einen ‚sozialen Marschallplan‘ für die ärmsten Länder der EU. Sonst wächst hier ein sozialer Sprengstoff mit europäischer Dimension heran. Das kann uns nicht egal sein. Schlussendlich sitzen wir alle im selben Boot, das haben wir noch nie so stark gespürt, wie in den letzten Jahren.“

Chance und Aufgabe
Für den Einzelnen ist mit dem Globalen die Welt auch komplexer geworden und unübersichtlicher. In eine Entscheidung kann schwer alles miteinbezogen werden, was damit in Verbindung steht. Das macht unsicher. Manchmal auch ohnmächtig. „Es ist nicht einfach, aus diesem eigenen ‚Ohnmachtsgefühl‘ herauszutreten. Wegschauen und sich nicht mit dieser Welt-Realität auseinanderzusetzen ist eine Antwort. Sie lässt aber keinen persönlichen Entwicklungsschritt zu“, erläutert Natter die Chance, die in einer Auseinandersetzung steckt. „In allen Religionen wird ein Umgang mit bettelnden Menschen als gelebte Grundhaltung eingeübt; es geht um Gebefreudigkeit, um Barmherzigkeit und die Suche nach sozialer Gerechtigkeit.“

Gutes Leben für alle
Verantwortung tragen Einzelne sowie Gemeinschaften auf unterschiedlichen Ebenen. Es geht um Chancengleichheit, um Teilhabe am Ganzen und darum, dass sich jeder und jede als Teil des Ganzen fühlen kann. Es geht letztendlich um ein gutes Leben für alle.

(aus dem KirchenBlatt Nr. 41 vom 9. Oktober 2014)