Den „Opfern eine Stimme geben“ und den „Tätern Namen und Gesicht“. Das ist der Antrieb, der hinter Jürgen Grässlins Arbeit steckt. Es ist zu seiner „Lebensaufgabe“ geworden, über Waffenproduktion aufzuklären und „Rüstungsexporte völlig enthemmter Art“ aufzudecken – in Vorträgen, bei Lesungen, in seinen zahlreichen Sachbüchern. Sein neuestes Werk heißt „Schwarzbuch Waffenhandel“. Der Rüstungsexperte, Pädagoge und Autor recherchiert seit 30 Jahren intensiv auf diesem Gebiet.

Bilder:
Links: Jürgen Grässlin mit dem Somalier Abdirahman Dahir Mohamed. Er verlor durch eine Kugel aus einem G3-Gewehr sein rechtes Bein. Rechts: Mohamed Jama aus Nordsomalia hat bei einem Massaker einen Kopfschuss erhalten – ebenfalls durch eine Kugel aus dem Lauf eines G3-Gewehrs.

Interview: Susanne Huber

Sie reisen immer wieder in Krisen- und Kriegsgebiete, um die Opfer vor allem deutscher Rüstungsexporte ausfindig zu machen. Ist das nicht sehr schwierig?  
Jürgen Grässlin: Das dachte ich anfangs, habe aber festgestellt, es ist sehr leicht. Wenn ich in die Türkei oder nach Somalia reise, treffe ich mich mit Ärztinnen und Ärzten in Krankenhäusern und lasse mir Bilder von Schussverletzungen zeigen; oder ich gehe auf Plätze in Dörfern, in Städten, gehe zu Menschenrechtsorganisationen und in Behindertenheime. Dort zeige ich den Leuten Fotos von deutschen G3-Gewehren, von russischen Kalaschnikows, von M16-Gewehren der US-Amerikaner oder von Uzi-Maschinenpistolen der Israelis – das sind die klassischen Handfeuerwaffen auf dem Weltmarkt. Leider geht der Finger sehr oft auf das G3-Gewehr der Deutschen. 

Sprechen die Menschen über das, was ihnen passiert ist?
Jürgen Grässlin: Ja. Obwohl tief traumatisiert von ihren schrecklichen Kriegserlebnissen, sind sie froh, weil endlich jemand da ist, der ihnen zuhört. Dann erzählen sie von der ­Exekution des Vaters oder der Kinder; vom Kopfschuss der Mutter, die durch ein G3-Gewehr getötet wurde. Überlebende berichten, dass sie durch Schüsse dieses Gewehrs Gliedmaßen verloren haben oder sie noch Munitionsteile im Körper tragen, die oft Jahre danach eitern und wuchern, weil in einem Land wie Nordsomalia auf 40.000 Menschen nur ein Arzt kommt und Operationen kaum stattfinden. 

Wie kann festgestellt werden, woher eine Waffe kommt?
Jürgen Grässlin: Ein Beispiel: Der Somalier Abdirahman Dahir Mohammed hat mit einem Gewehr einen Schuss ins rechte Knie bekommen und daraufhin sein rechtes Bein verloren. Die Waffe ist in seinen Besitz gelangt und anhand der Seriennummer und des Beschusszeichens des Beschussamtes Ulm auf der Waffe war klar, es handelt sich um ein G3-Gewehr, das bei der Firma Heckler & Koch im deutschen Oberndorf am Neckar im Schwarzwald produziert wurde. Abdirahman Dahir Mohammed hat Knochenfraß. Alle ein, zwei Jahre muss der Stumpf aufgemacht und ein halber Zentimeter des Knochens abgesägt werden. Das macht er jetzt seit 15 Jahren. Nicht jede Kugel tötet. Es sind dramatische Schicksale, von denen ich erfahre. 

Sie sagen, Kleinwaffen sind die tödlichsten Waffen weltweit ...
Jürgen Grässlin: Zwei Drittel der Kriegstoten sind Gewehrtote. 95 von 100 Kriegsopfern sind Kleinwaffentote. Dazu zählen Landminen, Mörser, Handgranaten, Revolver, Pistolen, Scharfschützen, Sturm- und Maschinengewehre. Der größte Hersteller von Kleinwaffen in Europa ist die bereits erwähnte Firma Heckler & Koch. Sie rüsten Regime wie Saudi-Arabien, Katar oder die Vereinigten Arabischen Emirate mit dem Sturmgewehr G36, früher war es das G3, bis an die Zähne hoch. Es gibt über zwei Millionen getötete und weitaus mehr verstümmelte und verkrüppelte Menschen allein durch deutsche Rüstungsexporte. 

Welche Länder zählen zu den größten Waffen-exporteuren der Welt? 
Jürgen Grässlin: Mit großem Abstand die USA und Russland, danach kommt auf Platz drei Deutschland, gefolgt von Frankreich, Großbritannien und China. Das Makabre daran ist, dass fünf dieser Nationen, ausgenommen Deutschland, ständige Mitglieder im UN-Sicherheitsrat sind und den Weltfrieden durchsetzen und sichern wollen. Zugleich schicken sie aber als größte Rüstungsexportmächte Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete wie Sudan, Somalia, Afghanistan oder Irak. Hinterher schickt man Blauhelmsoldaten in Friedensmission auf die Kriegsschauplätze der Welt, die dort die zuvor herangeschafften Waffen wieder einsammeln. Es zeigt, wie absurd die Lage auf dem Globus ist und wie bedenklich, denn wir haben keine Alternative zu den Vereinten Nationen.

Höre ich da Kritik an den Vereinten Nationen?
Jürgen Grässlin: Die Vereinten Nationen müssten in vielerlei Hinsicht reformiert werden – strukturell, aber auch politisch, wenn sie es mit ihrem Friedensauftrag ernst meinen würden. Alle fünf  Mitglieder im UN-Sicherheitsrat – und Deutschland als drittgrößter Waffenexporteur natürlich auch – gießen Öl ins Feuer der Kriege und Bürgerkriege. Diese Staaten müssten endlich ernst gemeinte Friedenspolitik betreiben. Dazu gehört ein Stopp des Waffenhandels. Aber das Gegenteil ist der Fall.

Welche Staaten sind Hauptabnehmer von Waffen? 
Jürgen Grässlin: Im Moment sind es Indien und Pakistan. Gerade miteinander verfeindete Staaten werden immer wieder mit deutschen Kriegswaffen beliefert. Dazu zählen neben Pakistan und Indien auch die Türkei und Griechenland, die vielfach die gleichen Kampfpanzer erhalten; dazu zählen Israel, Ägypten und der weltweit zweitgrößte Christenverfolgungsstaat Saudi-Arabien, die in der Regel die gleichen Kriegsschiffe erhalten. Hier zeigt sich die Hemmungslosigkeit einer Rüstungsexportpolitik, die sich nach drei Kriterien richtet: Profit, Profit, Profit.

Die Menschenrechte, Moral und Ethik scheinen da keine Rolle zu spielen ... 
Jürgen Grässlin: Auf dem Papier schon. In Deutschland wurden im Jahr 2000 politische Grundsätze zum Waffenexport verabschiedet, die ausschließen, dass Deutschland menschenrechtsverletzende Staaten mit Kriegswaffen beliefert. Aber diese Grundsätze sind rechtlich nicht verbindlich. So kann sich die BRD auf der einen Seite immer wieder brüsten, ein Staat zu sein, der auf Ethik und Moral, auf Frieden und Freiheit, auf die Wahrung von Menschenrechten sehr viel Wert legt. Jedoch auf der anderen Seite trifft der geheim tagende Bundessicherheitsrat unter Führung der Kanzlerin Merkel Entscheidungen über brisante Rüstungsexporte und bestückt zuhauf selbst die schlimmsten Diktaturen der Welt mit Waffen. Das tut übrigens auch Österreich.

Auf welchem Platz steht Österreich im Hinblick auf Waffenexporte?
Jürgen Grässlin: Österreich ist im Moment der fünfundzwanziggrößte Rüstungsexporteur der Welt und hat z. B. mit Steyr Mannlicher einen großen Schusswaffenhersteller. In einer Untersuchung von amnesty international von 2005 bis 2009 wurde angeprangert, dass Österreich neben Italien das einzige Land war, das Waffen, Munition und Ausrüstung an Syrien genehmigte. Zudem hat Österreich im benannten Zeitraum Panzerfahrzeuge an den Jemen geliefert und Kleinwaffen und Glattrohrkanonen an Bahrain. Das sind alles massiv menschenrechtsverletzende Staaten. Aus meiner Sicht ist das schwer nachvollziehbar, denn Österreich ist ja begrüßenswerterweise ein neutrales Land. Aber wer Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete liefert, macht sich mitschuldig an Massenmorden, die damit verübt werden.

Buchtipp
„Schwarzbuch Waffenhandel. Wie Deutschland am Krieg verdient“, Jürgen Grässlin. Heyne Verlag 2013. Euro 15,50.

Zur Person
Jürgen GrässlinJürgen Grässlin zählt zu den profiliertesten Rüstungsgegnern in Deutschland. Der Pädagoge ist Autor zahlreicher Sachbücher u. a. über Rüstungsexporte. Immer wieder reist er nach Somalia, Kenia, in die Türkei und nach Türkisch-Kurdistan, um Opfer deutscher Waffenexporte zu interviewen. Grässlin ist Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft und gründete 2011 die Kampagne „Aktion Aufschrei: Stoppt den Waffenhandel!“ (www.aufschrei-waffen-handel.de). Im selben Jahr ist Jürgen Grässlin mit dem „Aachener Friedenspreis“ ausgezeichnet worden.

Friedensbotschaft des Papstes

Franziskus hat in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag am 1. Jänner auch an all jene einen Aufruf gerichtet, die mit Waffen Tod und ­Gewalt säen: „Verzichtet auf den Weg der Waffen und geht dem anderen entgegen auf dem Weg des Dialogs, der Vergebung und der Versöhnung. (...) Solange eine so große Rüstungsmenge wie gegenwärtig im Umlauf ist, können immer neue Vorwände gefunden werden, um Feindseligkeiten anzuzetteln. Darum mache ich mir den Aufruf meiner Vorgänger zur Nichtver-
breitung der Waffen und zur Abrüstung aller Waffen – angefangen bei den atomaren und den chemischen Waffen – zu Eigen.“
Die Friedensbotschaft von Papst Franziskus zum 1. Jännen finden Sie hier.

Aus dem KirchenBlatt Nr. 1 vom 2. Jänner 2014