Aus der Sicht der katholischen Soziallehre drängt sich angesichts der kommenden Nationalratswahl vor allem die Bedeutung des allgemeinen Wahlrechts auf. Mit der Ausübung dieses Rechts beteiligen wir uns an der politischen Gestaltung unserer Gesellschaft. Passives Fernbleiben schiebt dagegen die Verantwortung auf andere ab.

Dr. Wolfgang PalaverUniv.-Prof. Dr. Wolfgang Palaver
ist Sozialethiker und Dekan der
Theologischen Fakultät der
Universität Innsbruck.

 

Konkrete Wahlempfehlungen verlautbart die katholische Kirche heute keine mehr. Diese offenere Haltung zu den politischen Parteien gehört zu den positiven Errungenschaften einer Kirche, die sich nach dem Konzil zunehmend aus ihrer Verklammerung mit dem Staat oder bestimmten politischen Parteien befreit hat.

Wichtige Grundhaltungen

Die Kirche setzt sich aber für wichtige Grundhaltungen im Bereich der Politik ein. Besonders betont sie heute die Geschwisterlichkeit (früher Brüderlichkeit), die neben Freiheit und Gleichheit zu den drei Grundforderungen moderner Demokratie zählt, aber bisher noch zu sehr im Schatten der beiden anderen stand. Papst Franziskus hat sie ins Zentrum seiner Botschaft für den kommenden Weltfriedenstag gestellt: „Geschwisterlichkeit: Grundlage und Weg für den Frieden“. In seiner Vorankündigung verweist er auf die Armen und Bedürftigen, die oft nur als Hindernisse und nicht als Geschwister gesehen werden, um mit ihnen unsere Güter zu teilen. Die Haltung der Geschwisterlichkeit umfasst alle Menschen. An die Stelle der globalen Gleichgültigkeit soll nach Papst Franziskus die „Globalisierung der Geschwisterlichkeit“ treten. Dieses Prinzip betreffe alle Lebensbereiche, insbesondere auch die Politik.

Einheit zwischen allen Menschen

Die von Gott geschenkte Gabe der Geschwisterlichkeit überschreitet herkömmliche Formen von politischer Solidarität. Sie beschränkt sich nicht auf die Sorge um die eigene Gruppe oder die eigene Interessensgemeinschaft. Auch eine bloße Beschränkung auf „Österreicher“ widerspricht ihr. Geschwisterlichkeit zielt auf die Stärkung der Einheit zwischen allen Menschen und auf die Sorge für jene Menschen, die am notwendigsten unsere Hilfe brauchen.

Welche konkreten politischen Folgerungen lassen sich für die Geschwisterlichkeit nennen? Geschwisterlichkeit kann sich z. B. darin zeigen, dass auch Menschen mit Migrationshintergrund an wählbarer Stelle gereiht sind, damit sie am politischen Leben teilnehmen können. Auch die Solidarität mit Asylsuchenden gehört zur gelebten Geschwisterlichkeit. Sie übersteigt die Grenzen Österreichs und zielt auf ein solidarisches Europa, ohne aber an dessen Grenzen Halt zu machen.
Gerade am Rande Europas stoßen wir nämlich wiederum auf die schrecklichen Folgen jener globalen Gleichgültigkeit, vor der der Papst vor kurzem auf der durch ihre Flüchtlingsdramen bekannt gewordenen Insel Lampedusa warnte.

Die Geschwisterlichkeit stärken
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Alle politischen Parteien sind heute dazu aufgerufen, die Geschwisterlichkeit in unserer Welt zu stärken. Damit sie dazu aber die Kraft haben, brauchen sie geschwisterliche Menschen als Mitglieder und Wähler. Ich wünsche mir kirchliche Gemeinden und Gemeinschaften, die der Politik hier vorbildhaft voraus gehen.