War es seine täglich gelebte Einfachheit und Armut, die Franziskus die Augen und das Herz für Gottes kostbaren, reichen Fingerabdruck in der Schöpfung öffnete?

Serie: Teil 3 von 7

Sonnengesang des hl. Franz

P. Johannes Schneidervon P. Dr. Johannes Schneider
Fachmann für franziskanische Spiritualität

Dunkel erinnere ich mich an den ersten Schulunterricht. Eine bunte Wandtafel zeigte die Buchstaben des Alphabets jeweils mit einem Bild verbunden. Der erste Buchstabe „a“ war in einen „Apfel“, „b“ in eine „Birne“ eingebaut. So lernten wir Kinder an Bildern Lesen und Schreiben.

Das Alphabet des Lobes
Die Sprache der Schöpfung wird durch Bilder gelernt. Doch ist es nicht immer leicht, ihre Bilder als „Sprache“ und „Wort“ des Schöpfers zu entziffern. Im Sonnenlied bedient sich Franziskus der Sprache der Schöpfung, er lernt die Bilder des Geschaffenen als Alphabet des Lobgesangs auf den Schöpfer zu buchstabieren. Beginnend mit Bruder Sonne tragen die Geschöpfe ein Sinnbild in sich: „significazione“ ist das, was ein „signum“ oder Zeichen darstellt. Vom großen Lichtträger des Tages buchstabiert Franziskus weiter zu den kleineren Leuchten der Nacht (vgl. Gen 1,16):

Gelobt seist du, mein Herr,
durch Schwester Mond und die Sterne;
am Himmel hast du sie gebildet,
klar und kostbar und schön.


Durch unendliche Räume des Alls und der Zeiten hindurch sieht der kleine Arme die Himmelskörper unmittelbar aus der formenden Hand ihres Schöpfers hervorgehen: „Du hast sie gebildet“ (l’ai formate). In diesen fernen Geschöpfen tritt dem Schüler der Schöpfungssprache das persönliche „Du“ ihres Bildners entgegen. Wie ein noch weiches Tonmodell weisen die „klar und kostbar und schön“ geformten Gestirne die Fingerabdrücke ihres Künstlers auf. „In jedem Kunstwerk lobte er den Künstler. Er erkannte im Schönen den Schönsten selbst“, schreibt sein erster Biograph Bruder Thomas von Celano. Die Sprache des Franziskus selbst ist einfach und schön: „stelle“ (Sterne) endet auf „belle“ (schöne). Als gelernter Textil-Kaufmann weiß er, was ein schönes, kostbares Kleid kostet. Im Gegensatz dazu wählt Franziskus für sich und seine Brüder wertlose Kleidung, um die Kostbarkeit dessen, was die Hand des Schöpfers webt und bekleidet, tiefer wahrzunehmen. Der auf der Erde liegende, mit rauer Kutte notdürftig bedeckte Arme blickt frei zum Himmel auf und erblickt dessen Kostbarkeit.

Klar und kostbar
Obwohl Franziskus sein Lied in der Nähe seiner Weggefährtin und Vertrauten Clara dichtet, widmet er ihr keine Strophe. In seinen Schriften nennt er sie nie. Bruder Stefan bezeugt, er habe nie ihren Namen ausgesprochen, sondern sie nur „Christiana“ genannt: die Christin. Doch in die Sternenstrophe lässt der Dichter ein Wort einfließen, in der ihr Name durchzuklingen scheint: „clarite – klar und kostbar und schön“. Alle drei Bezeichnungen würden auf sie zutreffen.

Und jedes Wetter
Zwei Winter habe ich in San Damiano verbracht und erbärmlich gefroren, wenn der kalte Wind vom Monte Subasio erbarmungslos durch alle Fugen und Ritzen des schlecht isolierten Klösterchens heulte. Doch kein Vergleich zum Winter des Jahres 1224/25, als Francesco sang:

Gelobt seist du, mein Herr,
durch Bruder Wind und durch Luft und Wolken
und heiteres und jegliches Wetter,
durch das du deinen Geschöpfen
Unterhalt gibst.


Normalerweise ist das Wetter zum Jammern da. Es ist an allem schuld, am Blutdruck, am Kreislauf, an der Stimmung, am Misslingen der Ernte, am Rückgangs des Tourismus. „Jegliches Wetter“ gehört für Franziskus zur Sprache der Schöpfung, deren dunkle Vokale von Bruder Wind (vento) mit den hellen der Luft (aere) zu den dunklen der Wolken (nubilo) und wieder hellen des heiteren (sereno) Himmels abwechselnd das vielstimmige, kontrastreiche Lob des Schöpfers erklingen lassen.

„Sonnengesang“ und die Zeugnisse der Brüder Thomas und Stefan: Franziskus-Quellen, Kevelaer 2009, S. 36–41, 389 u. 1499.