Die Gemeinwohlökonomie (GWÖ) ist in den vergangenen fünf Jahren erstaunlich rasch gewachsen. Auch große Unternehmen, etwa Banken und Versicherungen, sind Teil dieser Bewegung. Nun haben zwei Vorarlberger Gemeinden - als erste in Österreich - den Schritt in das alternative Wirtschaftsmodell gewagt: Nenzing und Mäder werden am Donnerstag dieser Woche zertifiziert. Der Nenzinger Bürgermeister Florian Kasseroler erzählt über Beweg- und Hintergründe.

zur Sache "Gemeinwohl-Ökonomie"

Patricia Begle

Wer die Liste an Auszeichnungen betrachtet, die in den letzten 15 Jahren an die Gemeinde Nenzing verliehen worden sind, ist beeindruckt. Ob Familien, Senioren, Integration, Kultur, Energiepolitik - in vielen Bereichen wurde das Engagement der Gemeinde honoriert. Um hier den Überblick zu bewahren und zielorientiert zu arbeiten, entschied sich Bürgermeister Florian Kasseroler für den Einstieg in die GWÖ. „Die Gemeinwohl-Bilanz ist ein gutes Instrument, um festzustellen, wo wir stehen, wo wir gut unterwegs sind und wo noch Luft nach oben ist“, erklärt er. „Die Gemeinwohlökonomie stellt Leitplanken zur Verfügung, an denen wir das kommunale Handeln ausrichten können.“

Wider die Ohnmacht 
Neben dieser pragmatischen Seite gibt es auch noch einen anderen Beweggrund für den Gemeindepolitiker: das Gefühl der Machtlosigkeit, das sich angesichts der Meldungen in Zeitung und Radio oft einstellt. „Die Welt ist in Bewegung. Die Frage ist, wie wir als Kommune adäquat reagieren können“, so Kasseroler. Er hat den Weg des Tuns gewählt. 

„Denke“ verankern
Im November 2016 fiel der Startschuss zum Projekt. In der Gemeinde Mäder fand Nenzing eine Partnergemeinde, in Ulrike Amann und Gebhard Moser kompetente Begleitung für den Prozess. Er gestaltete sich sehr intensiv. Ziel war es, eine Bilanz zu erstellen, eine Dokumentation sozusagen, die die Arbeitsweise der Gemeinde - auch aller ihrer Betriebe - aufzeigt und nach den Gemeinwohl-Kriterien beurteilt. Angesetzt wurde bei den Mitarbeiter/innen der beiden Gemeinden. „Wenn die ‚Denke‘, die hinter dem Modell steckt, bei den Mitarbeiter/innen angekommen ist, dann ist sie anders im System verankert. Sie haben einen anderen Blick auf die Sache, sie können die Leitlinien bei der Argumentation gut gebrauchen. Und sie bleiben, während Politiker wechseln“, erklärt Kasseroler.

Komplexität
Eine Gruppe von sechs Mitarbeitenden übernahm dann die detaillierte Ausarbeitung. Die Analyse reichte vom Einkauf des Streusalzes für die Straßen und von Spielsachen für den Kindergarten über die Form der Geldanlagen und Versicherungen bis hin zur Barrierefreiheit und die Sprachförderung von Kindern. Kleine und große Dinge, hinter allen steht eine Entscheidung. Alle Daten und Informationen wurden eingeholt und dokumentiert, rechtliche Fragen wurden geklärt.
Knapp hundert Seiten umfasst nun die Bilanz, sie ist Bestandsaufnahme und führt erste Ziele zur Verbesserung an. Kasseroler ist überzeugt, dass mit diesem Pilotprojekt für die nachkommenden Gemeinden schon viel an Vorarbeit geleistet wurde. Er ist sich auch bewusst, dass dieser Prozess nie abgeschlossen sein wird. Aber er ist überzeugt: Es ist ein guter Weg.

ZUR SACHE

Gemeinwohlökonomie

2010 veröffentlichte der Salzburger Christian Felber sein Buch „Neue Werte für die Wirtschaft. Eine Alternative zu Kommunismus und Kapitalismus“. Damit löste er eine Bewegung aus, die ein Wirtschaftsmodell erstellte, das auf folgenden Werten basiert: Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, Solidarität, Mitbestimmung, Transparenz. Es geht nicht um Profit und Konkurrenz, sondern um Gemeinwohl und Kooperation.
Als Instrument für die Umsetzung dieses Modells wurde die Gemeinwohl-Bilanz entwickelt. Sie führt Bereiche und Kriterien an, anhand derer überprüft werden kann, wie „gemeinwohltauglich“ das Handeln eines Unternehmens bzw. einer Institution ist.
Heute unterstützen rund 2000 Unternehmen das Modell - in Europa, in den USA, in Südamerika und Afrika -  etwa 400 haben eine Gemeinwohl-Bilanz erstellt. In Vorarlberg sind es fast schon 30 Unternehmen, die eine solche Bilanz durchführen - vom Tischlereibetrieb über  Steuerberatungsunternehmen bis zu hin zur Bankfiliale.

Infos
zum Verein zur Förderung der GWÖ in Vorarlberg finden Sie unter: vorarlberg.gwoe.net

Veranstaltungen im Ramschwagsaal Nenzing:

  • Do 5. Oktober,
    19 Uhr Festabend. Übergabe der Gemeinwohl-Zertifikate an die Gemeinden Nenzing und Mäder. Vortrag von Christian Felber.
  • Fr 6. Oktober
    9 Uhr: Erfahrungsaustausch über den Bilanzierungsprozess gemeinsam mit Vertretern der Gemeinden und den GWÖ-Beratern.
    10.45 Uhr: Vortrag von Gerhard Fehr (Verhaltensökonom und Journalist): „Wie können wir die alten Denkmuster aufbrechen?“

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(aus dem KirchenBlatt Nr. 40 vom 5. Oktober 2017)