„Da er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung“, ist bei Johannes nachzulesen. In Brasilien, am Xingu, ist es diese Verpflichtung zur Liebe, die Dom Erwin Kräutler jeden Mittelweg ausschlagen lässt.

Das Gespräch führten Veronika Fehle, Hannes Mäser und Dietmar Steinmair


Kirchenblatt:
Belo Monte, Menschenrechte, Indigene Bevölkerung – fällt der Name Dom Erwin, fallen diese Stichworte. 2010 wurde Ihnen der Alternative Nobelpreis verliehen. Kann man heute sagen, auch dadurch hat sich Ihre konkrete Situation am Fluss Xingu merklich verändert?

Kräutler: Gemerkt in dem Sinn, als dass die Regierung aufgrund des Alternativen Nobelpreis beschlossen hätte, „jetzt machen wir alles, was der Kräutler will“,  so ist es natürlich nicht gekommen. Aber dass ich internationale Rückendeckung bekommen habe, das hat sich ausgewirkt. Ich habe mich natürlich bei der Verleihung in Stockholm zu Wort gemeldet und einige Regierungsvertreter haben doch ziemlich scharf reagiert.

Kirchenblatt: Wenn Sie davon sprechen, dass ihr Auftreten teilweise scharfe Reaktionen produziert hat, wie wichtig ist für Sie dann auch die ideelle Unterstützung durch das Ausland?

Kräutler: Brasilien ist nach wie vor darauf erpicht, im Ausland das Bild eines Landes, das die Menschenrechte berücksichtigt und verteidigt, zu transportieren. Da geht es ums Image. Und wenn dann sogar beweisen kann, dass Menschenrechtsverletzungen vorkommen – nicht nur bei den indigenen Völkern, sondern auch bei Kindern und Frauen – und moderne Sklavenwirtschaft existiert, dass internationale oder nationale Prostitutionsnetze gespannt werden, dann macht das für Brasilien natürlich kein gutes Bild. Vor allem, wenn fast nichts bis nichts  dagegen unternommen wird. Und wenn ich dann meinen Mund öffne als international angesehener – sagen wir´s mal so – „Verteidiger der Menschenrechte“, dann hört man vielleicht besser hin. Wobei, und das muss man auch betonen, ich bin nicht alleine. Es gibt viele Bischöfe, die sich in derselben Situation befinden. Und es gibt Organisationen, die vielleicht auch mit der Kirche nicht direkt zu tun haben, wir aber im Schutz der Mitwelt und der Umwelt den Weg gemeinsam gehen können.  

Kirchenblatt: Seit 30 Jahren sind Sie Bischof am Xingu, pochen auf die Rechte der indigenen Bevölkerung. Das große Staudammprojekt Belo Monte, das derzeit durch alle Medien geistert, ist eine der Windmühlen, gegen die Sie anzukämpfen haben. 

Dom Erwin KräutlerKräutler: Das Tragische an dieser ganzen Geschichte ist, dass das Staudammprojekt auf so unendlich viele Leute negative Auswirkungen hart. Aber die Regierung hat sich einfach abgekapselt. Wer gegen das Projekt ist, ist gegen den Fortschritt, lautet die offizielle Losung. Da gibt’s keinen Dialog, absolut keine weiteren Untersuchungen. Man zieht das einfach durch. 40 Topwissenschaftler haben der brasilianischen Regierung bewiesen, dass das Staudammprojekt abzulehnen ist – aus sozialen Gründen, aus Umweltgründen und aus finanziellen Gründen. Man kann nicht 20 Milliarden Euro in ein Projekt buttern, das dann nur vier oder fünf Monate im Jahr funktioniert.

Kirchenblatt: Und die Politik schließt die Augen?

Kräutler: Dilma Rousseff, die erste Präsidentin Brasiliens, empfängt mich nicht einmal mehr.

Kirchenblatt: Der Kämpfer für die Menschenrechte ist die eine Seite der Medaille, die andere ist der Glaube. Sie sind Bischof von Xingu. Gibt es für Sie hier einen gangbaren Mittelweg?

Kräutler: Nein. Als Bischof kann ich keinen Unterschied machen. Es geht um die Menschenrechte, die Menschenwürde, die Gleichstellung von Frau und Mann, den Respekt vor den Kindern, den Respekt vor den Diskriminierten, jenen, die von der Gesellschaft an den Rand gedrückten werden. Dafür bin ich Bischof. Ich kann das nicht trennen und sagen: „Jetzt zelebrieren wir den Gottesdienst und das hat mir der Außenwelt überhaupt nichts zu tun. Wir sind hier drinnen. Die Kirchentüre ist zu.“ Es sind dieselben Menschen, die von Montag bis Freitag draußen arbeiten und am Sonntag mit mir den Gottesdienst feiern. Das ist ein Volk und da kann ich als Bischof nicht sagen: Eure Probleme gehen mich nichts an. Dann hätte ich das Handtuch schon längst geworfen. Bischof sein heißt nicht, dass man sich nur für Taufe, Firmung und Priesterweihen interessiert. Ich zelebriere jeden Tag. Ich bete bin in den Gemeinden. Aber ich bin nicht nur hier, um die Sakramente zu spenden, sondern ich bin Hirte.

Kirchenblatt: Hirte und Herde, Glaube und Leben sind also untrennbar miteinander verbunden?

Kräutler: Für mich ist die Religion nicht nur eine Schublade, die man rauszieht und wieder reinschiebt. In der Art: jetzt reden wir von Religion, ganz meditativ. Nein, Religion ist Leben. Das sind keine zwei paar Schuhe – da Religion und dort Menschenrechte. Die Menschen, die Verteidigung der Menschenrechte, das soziale Engagement, das ist nicht irgendein Appendix, ein Anhang unserer Arbeit. In Österreich haben wir eine Justiz, die funktioniert, wenigstens hoffe ich das. In Brasilien sehe ich, dass in der Justiz, in der Legislative und in der Exekutive viele Dinge nicht so laufen, wie sie nach der Verfassung laufen müssten. Ich stelle mich auf die Seite der Indios auch im Namen der Verfassung. Man kann über die Kirche schimpfen, aber die Rechte der Indianer haben wir in der Verfassung verankern können. Deshalb kann man mir nichts anhaben – weil es in der Verfassung steht. Weil ich zu den Menschen, die gegen die Rechte der Indios sind, sagen kann: „Das ist ein Verfassungsbruch. Artikel 231.“

Kirchenblatt: Eine kleine Rückfrage. Sie sagen, die Menschen, die am Sonntag in Ihre Kirche kommen, sind dieselben Menschen, die am Montag wieder draußen bei der Arbeit sind. Im Umkehrschluss muss dann die Botschaft, die in der Kirche verkündet wird, direkt etwas mit diesen Menschen zu tun haben. Gibt es , Ihrer Meinung nach, eine Seite Jesu, einen Aspekt des Evangeliums, den Sie genau diesen Menschen in Brasilien mitgeben wollen?

Kräutler: Ja. Ich gehe direkt von Jesus aus. Jesus ist getötet worden. Man hat ihn auf der einen Seite als König gesehen, auf der anderen Seite als Prophet. Als König ist er von den Römern gekreuzigt worden und als Prophet ist er von seinen eigenen Leuten zum Tod geführt worden. Aber was Jesus gesagt hat, ist für mich bindend: „Tut etwas für die Armen und Entrechteten.“ Er hat gesagt: „Ich war hungrig, ich war durstig, ich war gefangen.“ Heute würde er sagen: „ich war ohne Land, ich war ohne Dach, ich war ohne nichts, mir hat man die Identität abgesprochen“. Das ist eigentlich das Verbindende. Jesus hat sich identifiziert mit den Ausgestoßenen. In Brasilien hat man dafür an manchen Orten einen noch viel härteren Ausdruck geprägt: die Überflüssigen, die „Einwegmenschen“, die man wegwirft. Mit ihnen hat Jesus sich identifiziert, also kann die Kirche nicht so tun, als ob dem nicht so ist. Und das größte Verdammniswort, das überhaupt in der ganzen heiligen Schrift steht, ist Matthäus 25, wo Jesus jene zum Teufel jagt, buchstäblich zum Teufel jagt, die nichts für die  „Geringsten“ getan haben.

Kirchenblatt: Das Evangelium verbindet und ist verbindlich.
 
Kräutler: Was hat der Gott eigentlich von den Menschen verlangt? Da zieht sich ein Motiv durch das gesamte Alte Testament. Dass sie Rücksicht nehmen  - auf die Witwen, auf die Waisen und auf die Migranten, die Fremden. Das neue Testament baut auf dem Alten Testament auf. Man kann das nicht trennen. Was hat Jesus getan? Die Gleichnisse, die Jesus erzählt hat, zum Beispiel jenes vom barmherzigen Samariter, überlegen wir uns einmal, was da passiert ist. Ein Mann ist Räubern in die Hände gefallen, wurde beraubt und niedergeschlagen. Dann kam ein Mann aus Samarien zu ihm und hilft. Er fragt nicht: Bist du Jude? Bist du Christ? Hast du überhaupt eine Religion ? Er sieh, dass dieser Mann Räuber in die Hände gefallen ist. Für mich ist das immer der Hintergrund, nicht irgendeine Idee aus dem Wolkenkuckucksheim, sondern das Evangelium in allen Dimensionen. Jesus hat Stellung bezogen für die Armen, für die Ausgebeuteten und für die Ausgegrenzten. Wir sind verantwortlich für die Strukturen, die da sind und als Christ muss man auch den Mut haben, den Finger auf die Wunde zu legen und zu sagen: Diese Struktur ist menschenverachtend.

Kirchenblatt: Ist das das Wichtigste, das die Kirche, auch von der Weltkirche lernen kann?

Kräutler: Ich spreche natürlich aus meiner konkreten Situation heraus. Kirchliches Engagement heißt für mich, dass diese beiden Bereiche, Glaube und Leben, zusammengehören. Das ist auch in der Bibel offen dargelegt. Jesus hat gesagt: „Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe. (Joh 15, 9.11-12).“ Das „Wie“ ist entscheidend.  Jesus hat uns bis zum Letzten bis zum Äußersten geliebt. „Da er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung (Joh 13,1).“ Am Schluss, als Jesus am Kreuz stirbt, sagt er: „Es ist vollbracht“,. So hat man es übersetzt. Die Wurzel geht aber auf das Griechische zurück und entspringt dort demselben Stamm wie das „Ende“. Bis zum Ende, bis zum Äußersten also. Das ist die Grundlage. Deshalb kann ich mein Engagement nicht vom Evangelium trennen. Und wenn man es trennen wollte, dann verrate ich meinen Glauben. Das ist Verrat am Evangelium.

Kirchenblatt: Eine Aufforderung zur Verantwortung?

Kräutler:
Man kann nicht A sagen, ohne B zu sagen. Das heißt nicht, dass man die Religion parteipolitisiert. Das ist wieder eine andere Schiene. Wir sind alle politisch tätig, aber das heißt nicht, dass ich die Fahne einer Partei in die Hand nehme. Es geht mir um viel mehr. Es geht mir um die Menschenwürde, es geht mir um die Menschrechte, über alle konfessionellen Grenzen hinweg. Und da kriegen wir manchmal Schwierigkeiten. Wenn wir sagen: „Die anderen haben genauso recht.“

Kirchenblatt: Wenn Sie in Vorarlberg sind, spenden Sie oft die Firmung. Sie kommen in einer ganz besonderen Situation mit Jugendlichen und deren Angehörigen in Kontakt.  Sie erleben Kirche vor Ort – in Österreich. Im Vergleich mit Brasilien, wissend, dass es auch dort von Region zu Region Unterschiede gibt, was tut der Kirche Not oder gibt es vielleicht auch Parallelen?

Kräutler: Es geht um die Gemeinde, den Aufbau einer Gemeinde. Das sehe ich hier, wir reden hier in Vorarlberg gerade soviel über die neuen Strukturen, Pfarrverband und und und. Da, denke ich, könnten wir vielleicht mehr von Lateinamerika lernen. Bei uns gibt es eine Pfarre, die hat 70 Gemeinden. Eine andere hat 80. Punkt eins ist hier:  Man muss den Laien viel mehr vertrauen schenken. Man muss sich die Situation in Österreich doch nur genau ansehen. Zehn Priester gehen in Pension und einer kommt nach. Wir sind sicher sehr dankbar, dass wir Priester haben, die aus anderen Ländern zu uns kommen. Aber das ist keine Lösung. Man muss sich einfach fragen, wie das weiter gehen kann. Im ersten Schritt würde ich den Wortgottesdienst mehr unterstützen. Natürlich ist die Eucharistiefeier das Zentrum unseres Glaubens, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass man den Menschen einfach sagt,w enn du eine Eucharistiefeier willst, dann setz dich doch ins Auto und fahr in die nächste Pfarre. Da entsteht vor Ort doch keine Gemeinschaft.

Kirchenblatt:
Ihr Schiff, mit dem Sie u. a. zu den Menschen reisen, trägt den Namen „Freiheit“. Wie weit sind Sie, der sich in Brasilien nur noch von Bodyguards beschützt bewegen kann, denn noch frei?

Kräutler: Ich bin nicht frei in dem Sinn. Aber die innere Freiheit, die habe ich trotzdem bewahrt. Die eigentlich Freiheit ist die innere.

Kirchenblatt:
Wo auch immer man in Xingu mit den Menschen über Sie spricht, reden sie von „unserem Bischof“. Sie sind der der dritte Bischof am Xingu, der aus dem Orden des Kostbaren Blutes stammt. Hegen Sie die Hoffnung, dass der nächste Bischof am Xingu ein Brasilianer sein wird?

Kräutler:
Clemente Geiger, der erste Bischof am Xingu, war ein Deutscher. Der zweite Bischof, Erich, war mein Onkel. Wir alle kommen vom Orden des Kostbaren Blutes. Und warum? Weil der Orden das Gebiet damals übernommen hat. Als ich zum Bischof geweiht wurde, gab es am Xingu nur zwei oder drei brasilianische Geistliche. Das hat sich heute geändert. Und ich würde mich freuen, wenn der nächste Bischof ein Brasilianer wäre.

Kirchenblatt:
Wird sich, rein strukturell, am Xingu etwas ändern, wenn Sie schließlich emeritiert sein werden?

Kräutler: Man muss sich vorstellen, dass meine Diözese ca. die Fläche des heutigen Deutschlands umfasst. Das ist für eine Diözese einfach sehr groß. Das müsste man sicher teilen. Ich bin mit 41 Jahren Bischof beworden. Heute bin ich 71. Das ist 30 Jahre her, in dieser Zeit ändert sich vieles. Derzeit laufen auch Überlegungen, den Bundesstaat Para aufzuteilen. Das würde für unsere Diözese heißen, dass wir auf drei Bundesstaaten verstreut wären.
Als ich Bischof wurde, haben die Menschen von mir verlangt, kein Bischof des Schreibtisches zu sein. Ich sollte hinaus, zu den Menschen. Ich sollte erleben, was sie erleben. Das habe ich getan. Ein neuer Bischof findet dann vielleicht wieder einen neuen Weg.

Kirchenblatt:
Sie sind 71 Jahre alt. Mit 75 Jahren werden Sie, wie alle Bischöfe, dem Papst Ihren Rücktritt anbieten. Wird es für Sie tatsächlich einmal der bloße Liegestuhl sein können?

Kräutler: Nein, das sicher nicht, das wäre nicht mein Stil. Ich werde natürlich nicht dem nächsten Bischof vor sein Zimmer sitzen. Aber vielleicht gehe ich in eine Pfarrei. Ich kann ja auch nach Koblach gehen.